69) Meine Dänische Familie
Ich bin in einer kleinen Stadt, von Wald und Sümpfen umgeben, nahe der Grenze von Russland zu Belarus und der Ukraine aufgewachsen. Bis ich 8 Jahre alt war, war das eigentlich alles, was ich je gesehen hatte. Damals, es waren die 90er/Anfang der 2000er, hatten wir nicht viel Geld. Meine Großmutter zog mich auf. Das war schwierig für sie, denn manchmal hat sie ihr Gehalt nicht rechtzeitig bekommen. Sie erzählte mir später, wie sie sich manchmal Sorgen gemacht hat, wovon sie die Milch für mich kaufen sollte. Die Region, in der ich aufgewachsen bin, ist ein Gebiet mit hoher Strahlung infolge der Tschernobyl Katastrophe. Die Wolke mit radioaktiven Stoffen hat Gebiete in Belarus und Westrussland bedeckt, wegen des Windes der geweht hat, deswegen hat meine Heimatstadt etwas abbekommen und Leute wurden evakuiert. Aber meine Familie ist dort geblieben, man konnte es sich aussuchen, ob man gehen wollte oder nicht.
Nach dem Disaster gab es viele europäische Organisationen, die wissen wollten, wie die Strahlung Menschen beeinflusst, und die auch den Menschen helfen wollten, vor allem den Kindern. Eine Art zu helfen war die Kinder für Ferien und Ausflüge nach Europa zu bringen. Eine Organisation die geholfen hat war eine dänische, die jeden Sommer zwei Busse mit Kindern vom Westen Russlands für einen Monat durch Belarus, Polen und Deutschland nach Dänemark gebracht hat. Für achtjährige Kinder ist das ein unglaublich langer Weg. Einige der Kinder, die sie mitnahmen, waren Waisen, einige hatten gesundheitliche Probleme oder entwickelten sich langsamer, eine Folge der Strahlungen. Und einige wurden einfach mitgenommen, weil siesich selbst keine Ferien leisten konnten. Ich war keine Waise und soweit ich weiß, ist meine Gesundheit nicht betroffen, aber ich durfte trotzdem mitkommen. Ich erinnere mich, dass meine Großmutter mich gefragt hat, ob ich in ein Land namens Dänemark fahren möchte. Ich wusste nicht wo das ist. Sie zeigte mit eine Karte und es war ein kleiner Punkt darauf, verglichen mit dem riesigen Russland. Das fand ich spannend, ich war aufgeregt. Ein anderes Mädchen und ich würden zusammen in einer Gastfamilie sein, und wir hatten keine Ahnung, was diese für Menschen sein würden. Meine Eltern und meine Großmutter packten meine Sachen und schickten mich mit dem Bus zu dieser unbekannten Familie.
Wir fuhren eine lange Zeit bis zu einer Stadt names Middelfart. Dort stiegen wir aus und warteten auf die dänischen Familien, die uns abholen würden. Ich sah Ruth, die meine Gastmutter sein würde, und ihren Mann Karl. Ich glaube, dieses erste Bild von ihnen werde ich nie vergessen, weil es so ein großes Ding war sie zu treffen. Wir gingen zum Auto und fuhren wieder gen Süden, zu einer Kleinstadt. Ich erinnere mich, dass ich im Auto saß und Ruth uns einige Fragen stellte und versucht hat, mit uns zu reden. In dieser ersten Nacht saßen wir in der Küche und aßen gemeinsam Eis. Es war eine große Schüssel, weißt du, in Russland bekam ich nur eine kleine Portion, aber hier war es ein ganzer Eimer Eis aus dem wir löffelten. Wir haben uns nie seltsam oder fehl am Platz gefühlt, weil Ruth und ihr Mann sicher gestellt haben, dass wir auf einer Ebene miteinander redeten. Sie ist sehr gut darin, Dinge so zu erklären, dass man sie versteht, sie zeigte auf Dinge und benutzte Gesten. Sie sprach Dänisch, aber sie beschrieb Dinge, beispielsweise wenn wir mit dem Auto fuhren oder zu einem Laden gingen oder so, sie wiederholte die Worte wieder und wieder. Und ich hörte sie, verstand sie und prägte sie mir ein.
Wir waren dort für drei Wochen. Und diese drei Wochen waren so gefüllt mit Erlebnissen, denn sie ist eine Person die Dinge tut, und sie ist offen und einladend und herzlich. Sie hatte eine Plan für jeden Tag, was wir tun würden, was wir essen würden, wen wir treffen würden… Es gab keinen Tag, an dem wir uns selbst überlassen waren, da war immer etwas. Wir wurden zu ihren Freunden zum Kaffee eingeladen, zum Abendessen, und sie stellte uns all ihren Kindern und Enkeln vor. Wir lernten auch alle Nachbarn kennen, besuchten sie, tranken dort Kaffee und spielten mit den Nachbarskindern. Oder wir fuhren zum Zoo, oder sogar einmal nach Legoland. Es war voll gepackt, wir hatten drei Wochen, aber voller Eindrücke. Ruth machte Fotos von uns und daraus Fotoalben für unsere Familien.
Manchmal ging sie zu humanitären Organisationen oder Second Hand Läden und fragte, ob sie einige kostenlose Klamotten für uns hätten. Sie war auch sehr gut im Nähen und Handarbeit generell. Ich erinnere mich, sie hat uns ein Paar lilafarbene Shorts gemacht, die waren so cool. Als ich nach Hause zurückkam war ich die am coolsten angezogene Person, zumindest habe ich mich so gefühlt. Und von Beginn an bezog Ruth uns in alle Unterhaltungen mit ein. Sie fragte uns, was wir machen, und im Zoo zum Beispiel welche Tiere dort waren. Wenn wir wohin gingen saßen wir nicht alleine rum, sondern sie versuchte uns immer mit einzubinden, so dass wir redeten. Das half meinem Dänisch sehr. Als ich nach drei Wochen heim kam, konnte ich schon einige Sachen auf Dänisch sagen. Ich habe mich wie eine Dänin gefühlt.
Ich erinnere mich, nach all diesen Eindrücken, dass ich kein Heimweh hatte, ich wollte nur dort bleiben. Ich war dort glücklich, Ruth lächelte immer, und es war schade zu gehen. Die drei Wochen hatten mich komplett verändert. Ich hatte eine Welt gesehen, die ganz anders als meine war. Und vielleicht weil Ruth und die Leute um mich herum so nett waren, dachte ich alle Menschen in Dänemark wären so, ich dachte Dänemark wäre ein Land in dem alle Menschen nett zueinander sind. Und es war Ruth, die mir dieses Gefühl gab. Ich lebe jetzt inDänemark und weiß, dass das nicht auf alle Menschen zutrifft, aber sie war so.
Als ich nach Hause kam wollte ich auf jeden Fall wieder dorthin, und wir schrieben und telefonierten miteinander. Ruth konnte mich und meine Familie auch in Russland besuchen, und das war spannend für sie zu sehen, wo ich herkam. Es ist eine Sache, ein Kind zu kennen und nicht zu wissen, wo es herkommt, aber die Heimat und Familie kennenzulernen, das ist prägend. Danach lud sie mich und das andere Mädchen wieder ein. Das ging so weiter bis ungefähr 2007, als ich so 13, 14 Jahre alt war. Jeden Sommer wurde ich für drei Wochen eingeladen. Es war mein Highlight jeden Sommer. Ich machte mir sogar einen Abreißkalender, wo ich jeden Tag bis zur Abreise dorthin abreißen konnte. Ich habe mich dort wohl gefühlt, wie in einem zweiten Zuhause. Über die Jahre sind wir so als Familie zusammengewachsen.
Mein Aufwachsen und die Person, die ich geworden bin und was ich mit der Zeit gelernt habe, habe ich Ruth zu verdanken. Ich spreche Dänisch, und auch das ist ihretwegen. Sie hat eigentlich den ganzen Lauf meines Lebens damit beeinflusst. Ich war gut in und interessiert an Sprachen, Englisch war mein Lieblingsfach in der Schule. Als ich mir Universitäten angesehen habe, wollte ich Übersetzerin oder Linguistin werden. Ich war letztendlich am Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen. Wir konnten dort aus 86 Sprachen wählen, und ich schrieb, dass ich Dänisch lernen wollte. Sie haben verschiedene Jahre und Gruppen, und zu dem Zeitpunkt konnte ich nur Norwegisch machen, wo ich mich gefragt hatte, “Was ist das denn?” Doch ich bin froh darüber, dass ich Norwegisch gelernt habe, und Dänisch habe ich nebenbei auch gelernt. Ich wollte in Dänemark arbeiten, ich wollte Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern aufbauen. Ich bekam ein Praktikum, durch welches ich im Winter 2016 nach Kopenhagen kam. Interessanterweise sind wir mit Ruth überall um Jütland und Fünen gefahren, von daher war ich fast überall in Dänemark, außer Kopenhagen. Kopenhagen war 2016 für mich komplettes Neuland. Für mich, Dänemark ist mehr Jütland als Kopenhagen. Wenn ich nach Jütland gehe, immer wenn ich meine Familie dort besuche, ist es wie zu Hause zu sein. Es ist wirklich mein zweites Zuhause.
Ich kam für das Praktikum, und dann habe ich einen Job in Dänemark bekommen. Und Ruth und ich waren wieder eng verbunden. Wir waren immer in Kontakt, aber in den Jahren meines Studiums haben wir nur geskypt oder telefoniert. Jetzt bin ich so froh und schätze mich glücklich, denn jetzt bin ich in Dänemark und habe hier geheiratet und habe meine zweite Familie hier. Denn meine russische Familie ist zu Hause und es ist schwer dorthin zu kommen. Als ich nach Dänemark gezogen bin kam es mir nicht so vor, als würde ich mein Heimatland wirklich verlassen. Es war ungefähr ein Zweistundenflug nach Moskau, und von dort aus konnte ich einen Zug in meine Heimatstadt nehmen, es hat sich nicht so weit weg angefühlt. Aber als Covid anfing und dann der Krieg kam, da waren plötzlich all diese Grenzen, plötzlich war alles weit weg. Da konnte man nicht mehr einfach in ein Flugzeug steigen und zwei Stunden später wieder im Heimatland sein. Meine Freunde und alle außerhalb Russlands haben Probleme, nach Hause zu kommen. Jetzt ist alles sehr teuer, und mit Covid kamen auch Quarantäneregeln und Tests. Deswegen bin ich sehr glücklich darüber, dass ich diese zweite Familie habe, es macht alles viel einfacher. Ich kann in den Ferien zu ihnen gehen, und jedes Jahr haben wir diese Weihnachtstradition, wo Ruth alle ihre Enkel zusammenbringt und wir Plätzchen zusammen backen. Außerdem waren Ruth und ihr neuer Partner Sven wie eine Familie für mich bei meiner Hochzeit im März. Wegen all der Visa Beschränkungen konnte meine Familie nicht kommen und das war sehr hart für mich. Aber Ruth und Sven waren da als Teil meiner Familie, und ich werde dafür für immer dankbar sein.
Das ist die Geschichte, die Person, die mein Leben verändert hat. Ich finde, sie hat diese Art an sich, einfach Dinge für andere zu tun. Und ich denke, das hat sie nicht nur für uns getan, sie hat auch geholfen als die Krise in Syrien zugeschlagen hat, als sie Syrische Flüchtlinge zu sich nach Hause eingeladen hat und ihnen was selbstgekochtes zu Essen gegeben und mit den Kindern gesprochen hat, solche Sachen. Heutzutage stellt man etwas auf seine Instagram Seite, um Stellung zu beziehen, aber sie war nie so, sie hat wirklich etwas gemacht. Und sie hat damit nicht angegeben, also sie hat Leuten von uns erzählt, aber es ging dabei nie um sie selbst. Und sie hat viele eigene Kinder und Enkelkinder, und die haben dieselben Werte aufgenommen, sie sind sehr freundlich und höflich und herzlich. Ich bin jetzt 30 Jahre alt, und wenn ich komme heißen sie mich willkommen, und einige sagen, sie betrachten mich als Schwester, weil ich so oft da war.
Das ist meine Geschichte, und es freut mich, dass sie erinnert werden wird. Denn Erinnerungen und solche Dinge verblassen, aber wenn sie veröffentlicht sind, dann nicht, und das wird toll sein.
68) Lehren aus Gemeinschaft und Solidarität
Vor ein paar Wochen haben Student:innen die Universitäten in ganz Finnland übernommen, besetzt. Student:innen haben Camps in den Universitäten aufgebaut, um gegen die Politik der neuen Regierung, die das Studieren an den Hochschulen negativ beeinflusst, zu protestieren.
In diesen und den folgenden Wochen sah ich eine Solidarität unter den Studierenden, den Protestierenden, die bei uns in der Universität lebten. Sie schafften Programme, unterrichteten einander, lernten zusammen, strickten, kochten Essen für einander, stellten sicher, dass sich alle sicher fühlten, tätowierten einander sogar und teilten miteinander ihre Fertigkeiten, Wissen, Zeit und Fürsorge. Ein Problem von einer Person wurde ein Problem, das eine ganze Gruppe löste, Leuten fragten herum für Hilfe, hatten eine Idee, oder Material, das gebraucht wurde. Die Leute sorgten für einander, lernten einander kennen, diskutierten, waren einer Meinung, waren verschiedener Meinung, und währenddessen verwandelten sie die Universität in ein Wohnzimmer, einen Ort der Ruhe, einen Ort des Lernens, eine Küche und einen Schlafsaal. Tag für Tag tauchten neue Zelte auf und die Universität sah mehr und mehr wie ein Zeltplatz aus. Einige brachten Lampen, Teppiche, boten Workshops zu verschiedenen Themen an oder nahmen an welchen teil, und begannen als eine Gemeinschaft zu agieren. Die Leute schauten sich gemeinsam Dokumentationen an, unterstützten sich, schafften gemeinsam neue Dinge.
Die Atmosphäre war wundervoll, es schien als ob die Universität in diesen Wochen uns gehören würde, dass wir zu der Universität gehörten und sie unsere eigene machten. Wir agierten und lernten als eine Gemeinschaft, sorgten für einander, standen für unsere Rechte ein und brachten einander unsere Kenntnisse bei.
Auch wenn die Uni-Besetzung inzwischen beendet ist, diese Gemeinschaft von Leuten, die für einander sorgen und für ihre Rechte einstehen besteht immer noch. Sie sind nun auch bei anderen Themen involviert, begleiten einander in Friedensdemonstrationen, fordern einen Waffenstillstand in Gaza. Sie kümmern sich immer noch um einander und sind auch solidarisch mit Menschen, die weit weg sind, Menschen, die sie nie getroffen haben. Menschen teilen Horror und Angst vor dem, das passiert und was bevorsteht, aber sie teilen auch Hoffnung und Träume von Frieden. Sie organisieren Events, gehen gemeinsam zu Protesten, teilen ihre Ressourcen und Petitionen. Ich habe gelernt, dass Gemeinschaften stark, widerstandsfähig, und schön sind und dass sie wachsen, aufblühen, sich umeinander kümmern. Zusammen sind wir so viel stärker, wir sind so viel sicherer. Zusammen sind wir mehr als wir je alleine sein könnten. Wir brauchen diese Gemeinschaften um ihrer selbst willen, denn Menschen sorgen sich umeinander, wir brauchen sie um Veränderung hervorzurufen, wir brauchen diese Gemeinschaften für Frieden und Fürsorglichkeit.
67) Freie Sitzplatzwahl
Metro in Tbilisi. Es ist voll. Aber Metros scheinen generell voll und nicht ganz sauber zu sein, oft zumindest. Auch diesmal. Viele Leute stehen, alle Sitzplätze sind schon besetzt. Alle? Nein! Drei Plätze sind noch frei. Doch keiner setzt sich, weil eine offene Flasche Limo und ein halb voller Becher mit grünem Inhalt dort stehen, beziehungsweise liegen. Ein Teil der Flüssigkeit ist auf die Plastiksitze verteilt, deswegen meidet die Menge sie. Bis auf eine Frau, die bald nach mir einsteigt. Die zückt eine Plastiktüte und ein Taschentuch. In die Plastiktüte tut sie den Becher und die Flasche, mit dem Taschentuch säubert sie die Sitze von der grünen Flüssigkeit. Dann setzt sie sich. Sie war nicht für den Dreck verantwortlich, noch dafür ihn wegzumachen, sondern eine normale Fahrgästin. Doch mit wenigen Handgriffen hat sie getan, wovor alle anderen (ich selbst eingeschlossen) zurückgeschreckt sind oder ignoriert haben: die Sitzplätze für alle wieder benutzbar zu machen.
66) Übers Hilfe Annehmen
Letztes Jahr bin ich auf einer Reise unterwegs gewesen, bin dabei krank geworden und habe eine wichtige Lektion gelernt.
Ich war gerade erst in einem neuen Ort im Norden von Albanien angekommen, und habe die Stille, die wunderschönen Aussichten und die Ruhe dort genossen. Meine Gastgeber waren super nett, aber wir haben nicht die gleichen Sprachen gesprochen und deswegen nicht viel interagiert.
An einem Tag bin ich sehr krank geworden und mich über den Tag hinweg zunehmend deutlich schlechter gefühlt, so sehr, dass ich das Gefühl hatte, mein Bewusstsein zu verlieren, etwas was ich nie zuvor so gefühlt habe. Ich habe davor gezögert um Hilfe zu fragen und wusste nicht wirklich, was ich tun sollte. Das nächste Krankenhaus war weit weg und es war nachts.
Mit meiner letzten Kraft, mich am Treppengeländer festhaltend, bin ich nach unten gegangen und habe meinen Gastgebern gesagt, dass ich mich nicht gut fühle und nicht weiß, was ich tun soll. Mein Gastgeber Fatmir hat mir sofort angeboten, mich zum nächsten Krankenhaus zu fahren, wobei ich zögerlich war. Fatmir’s Nichte, die Englisch gesprochen hat, sagte zu mir, dass es in Ordnung ist, ins Krankenhaus zu gehen und dass es besser wäre als so viel zu leiden und sich unsicher zu fühlen. Da ich immer kraftloser wurde und mich fühlte, als ob ich in Ohnmacht fallen würde, nahm ich das Angebot an, und Fatmir fuhr mich zum Krankenhaus. Unterwegs auf der Fahrt gab ich mein bestes, bei Bewusstsein zu bleiben. Fatmir erzählte mir am nächsten Tag, dass er dachte, ich wäre in seinem Auto am Sterben. Als wir ankamen hatte ich bereits Muskelkrämpfe.
Fatmir blieb mit mir in dem Krankenhaus und stellte sicher, dass sich um mich gekümmert wurde, und wir fingen an uns zu unterhalten. Es gab keine Sprache, die wir beide sprachen, aber Fatmir sprach Italienisch und ich hatte Latein in der Schule gehabt, und so sprachen wir einen Mix aus Italienisch und Latein.
Am nächsten Tag, ich fühlte mich schon viel besser und war aus dem Krankenhaus zurück, aber immer noch schwach, klopfte mein Nachbar an meine Tür. Wir hatten uns vor ein paar Tagen kurz getroffen und sprachen die gleiche Sprache. Er fragte mich, warum um alles in der Welt ich ihn nicht kontaktiert hatte und sagte, dass ich früher nach Hilfe hätte fragen sollen.
Er sagte, dass wir alle Hilfe brauchen und dass wir unser Leben nicht ganz alleine schaffen und dass es wichtig wäre, dass ich lerne, anderen zu vertrauen und um Hilfe zu fragen, wenn ich sie brauche. Während ich zögerlich war um Hilfe zu bitten, weil ich dachte, ich würde anderen damit Umstände bereiten, war er auf mich sauer, gerade weil ich nicht um Hilfe gebeten hatte, als ich sie brauchte.
Ich bin immer noch unglaublich dankbar für die Freundlichkeit, Hilfe und Fürsorge von Fatmir und seiner Familie. Für all die wunderbaren Diskussionen die in den nächsten Tagen folgten und die Lehren, von nach Hilfe fragen, Hilfe annehmen und Freundlichkeit.
Es fällt mir immer noch schwer um Hilfe zu fragen, aber ich lerne, dass wir alle einander vertrauen müssen und dass um Hilfe fragen Mut braucht, aber dass wir ohne einander nicht existieren und es uns nicht gut geht. Für mich ist es Frieden, wenn Menschen um Hilfe fragen können und andere finden, die willens sind, ihnen zu helfen. Wer sind wir letzten Endes ohne einander, ohne die Liebe, Fürsorge, Kreativität, Stärke und Gemeinschaft voneinander.
65) Spielen wie ein Mädchen
Als Kind habe ich mich ins Fußball spielen verliebt. Ich glaube, ich habe mich nicht dazu entschieden, Fußball zu spielen, Fußball hat mich gewählt um es zu spielen. Ich wurde in einer Kleinstadt in Kurdistan geboren, in einer Gesellschaft, in der die meisten Familien Jungs haben wollen. Meine Eltern wollten immer einen Jungen haben, deswegen haben sie es immer wieder versucht. Wir sind sechs Mädchen und ein Junge. Ich war die letzte in der Familie, die jüngste. Ich war sechs Jahre alt, als ich anfing Fußball zu spielen. Ich wusste nicht, dass es Fußball ist, es war einfach etwas, was ich mochte und tun wollte. Ich war das einzige Mädchen unter all den Jungs, die auf der Straße spielten. Nichtsdestotrotz war meine Leidenschaft für das Spiel ungebrochen. Ich wollte, dass die anderen Mädchen auch spielten, doch wegen der Stereotype für Mädchen und die Boxen, in die wir Klischees nach gesteckt werden, waren wir in zu unterschiedlichen Situationen in unseren Leben. Als ich geboren wurde, hat meine Familie… also ich kann mich nicht erinnern ob ich Jungssachen tragen wollte, oder ob sie mir Jungsklamotten angezogen haben, weil sie immer einen Jungen wollten, aber ich glaube sie haben sie mir angezogen.
Ich spielte weiter Fußball bis ich zwölf Jahre alt war. Dann sagte meine Familie mir: “Hör auf mit dem Fußball spielen, du bist schließlich ein Mädchen.” Sie wollten mich als Junge, aber als ich gewachsen bin und es Zeit war, dass die Gesellschaft sehen konnte, dass ich ein Mädchen bin, sollte ich aufhören wie ein Junge zu sein und Fußball zu spielen. Ich spielte nicht mehr, bis ich 18 Jahre alt war. Und ich denke, wenn die Gesellschaft und meine Familie mich hätten spielen lassen, wäre ich jetzt in einer anderen Position, hätte vielleicht eine andere Karriere. Vielleicht wäre ich dann heute eine professionelle Fußballspielerin.
Stattdessen habe ich mit 18 wieder angefangen zu spielen, nur als Hobby mit Freunden. Das war nachdem meine Familie und ich von Sinjar, welches von ISIS angegriffen wurde, nach Duhok, fliehen mussten. Duhok war eine größere und offenere Stadt als die, in der wir gelebt hatten. Dort lernte ich andere Leute kennen und fing an mit Freunden und endlich auch mit Frauen Fußball zu spielen. Familiärer und gesellschaftlicher Druck dämpften meine Freude nicht mehr. Das führte dazu, dass ich begann mit NGOs im Bereich “Sport für Entwicklung” zu arbeiten. Jetzt arbeite ich mit Sport, Fußball, und nutze es um Menschen zusammen zu bringen und die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Ich habe Trost darin gefunden, Frauen im Sport zu unterstützen. Zusammen kämpfen wir dafür, die männerdominierte Welt zu ändern, und bringen etwas Hoffnung für eine inklusive Welt.
64) Aufmerksame Kinder
Mein Vater hat erzählt, wie er und mein kleiner Bruder vor kurzem in Berlin waren. Bekannte besuchen, Vater-Sohn-Wochenende, sowas halt.
Unter anderem waren sie in der Innenstadt, beim Brandenburger Tor in der Gegend. Sommer, Hauptstadt, viele Menschen unterwegs. Sie sind zu zweit durch die Gruppen von Menschen gegangen. Einmal kamen sie an einem weinenden Mädchen vorbei. Mein Vater war schon dabei normal weiterzugehen, als mein Bruder meinte, ob sie nicht mal fragen sollten ob was passiert sei. Vater hat zugestimmt und sie sind zu dem weinenden Kind hin. Sie hatte Russisch oder eine andere slawische Sprache gesprochen, die die beiden nicht verstanden haben. Aber sie konnten die Kleine zu einer offiziellen Stelle in der Nähe bringen, die sich um sie gekümmert hat und ihre Familie fand. Und was blieb bei mir hängen von der Erzählung? Wie mein Bruder auf das andere Kind geachtet und ihm geholfen hat, während so viele Erwachsene es scheinbar übersehen hatten.
63) Mit Freundlichkeit einmal durch Dänemark
Vor kurzem war ich (teilweise mit Begleitung) auf einer langen Wanderung unterwegs. Einmal durch Dänemark, von Kopenhagen nach Flensburg, 420km, für ein Projekt names Climate Walk. Es war sehr anstrengend und auf viele Weisen schmerzhaft. Doch ich erinnere mich auch an die vielen freundlichen Menschen, die ich getroffen habe, die mir auf die ein oder andere Art geholfen haben, auf eine Weise als wäre es kein großes Ding.
Da war der Mann, der mich sehr spontan als Gastgeber in seinem AirBnB aufgenommen hat, als ich keine Unterkunft in Roskilde finden konnte. Der Busfahrer, der anhielt und mir anbot, mich in seinem leeren Bus mitzunehmen. Die alten Damen in der Stadtbibliothek von Frederiksværk, die mir zwei Stücke Kuchen für den Weg mitgegeben hatten, weil ich nicht länger bleiben und mit ihnen gemeinsam Tee und Kuchen mit ihnen haben konnte. Die Frau, mit der ich eine Nacht am gleichen Shelter war, und die so freundlich und neugierig und einfühlsam war. Der Campingplatzbesitzer, der uns in den Gemeinschaftsraum, sodass wir unsere Telefone laden und selbst eine Mittagspause machen konnten. Die Frau, die mit dem Auto nochmal umgedreht ist um zu fragen, ob wir etwas brauchen würden und okay sind, weil sie selbst beim wandern kürzlich gemerkt hat, wie hilfreich das sein kann. Unsere Gastgeberin in Jelling, die meinte, falls unser Tag zu anstrengend sein, sollten wir sie anrufen und sie würde uns mit dem Auto zu Hilfe kommen. Die Menschen, die uns unsere Wasserflaschen in ihren Häusern auffüllen ließen. Die Angestellten in den Supermärkten, die uns die Angestellten Toiletten benutzen ließen, wenn es keine Kundentoilette gab. Unser Gastgeber in Kolding, der uns French Toast zum Frühstück gemacht hat, wie für seinen Sohn, und der uns was vom Bäcker für den Weg mitgebracht hat.
Vielleicht war es kein großes Ding für sie alle, es kostet sie nicht viel, diese kleinen Dinge um mir (oder uns) zu helfen. Doch es hat die Situation für mich in diesen Momenten um vieles verbessert.
62) 80 Cent Lauch zu viel
Neulich waren Mama und ich eine Runde im Wald laufen, sie hatte etwas Geld dabei um auf dem Rückweg einen Stop in der Kaufhalle zu machen. Noch ein paar Sachen für das lange Wochenende einkaufen. Einen Zwanzigeuroschein hatte sie mit dabei, schon im Laden überschlagen ob es reicht. Wir holten nicht viel, aber Hackfleisch vom Fleischer. Und dabei und mit der Inflation gerade, sind zwanzig Euro schnell weg. An der Kasse schielte Mama auf den Monitor, als noch der Lauch abgewogen wurde. Am Ende war es etwas zu viel. 20,80 Euro. „Jetzt haben wir das Problem, wir haben nur 20 Euro mit. Können wir einen Lauch zurück legen?“ Das war etwas kompliziert, nun wo sie schon als Bündel abgewogen waren. Die Verkäuferin hatte eine Idee, doch bevor sie sie ausführen konnte, meinte das Paar das hinter uns stand, ob sie aushelfen könnten. Das wäre sehr freundlich, meinte Mama. Sie ließ sich die Adresse sagen, sagte, wir würden das Geld beim nächsten Dauerlauf in den Briefkasten reinschmeißen. Dann fragte der Mann wie viel es denn noch sei, was fehlt— 80 Cent. Ja das würde auch auch so ohne zurückgeben passen, meinte er und reichte das zusätzliche Geld über die Theke. Kein Ding, meinte die Frau, das Problem hätten sie kürzlich auch gehabt. Verständnis, weil man die Situation selbst kennt.
61) Gast für eine Nacht
Ein alter Unifreund, der dieser Tage in einer anderen Stadt als ich wohnt, hat mir heute Nachmittag geschrieben. Er hat eine Freundin, die heute einen unglücklichen und stressigen Tag hatte, bei dem Versuch mit der Bahn durch mehrere Länder nach Hause in die Stadt, wo sie beide wohnen, zu kommen.Bis dorthin schafft sie es heute, Verspätungen und Zugausfällen sei dank, und ist für eine Nacht in der Stadt wo ich wohne gestrandet.
Sie könnte ein freundliches Lächeln und eine Notunterkunft gut gebrauchen, schreibt er— ob ich aushelfen kann? Klaro. Zwei Freundinnen besuchen mich diese Woche, von denen eine bei mir übernachtet, aber es gibt ja immer noch eine extra Isomatte.
Wir holen sie auf dem Nachhauseweg von der Bushaltestelle ab und spazieren gemeinsam zur Wohnung. Wir essen alle gemeinsam zu Abend, fragen sie über ihre Reise, wohin es geht und über ihr momentanes Leben. Wir erzählen ein wenig über uns. Über unsere Unis, unsere gemeinsamen Interessen. Unsere Heimatstädte und Wahlheimat. Dass sie wahrscheinlich sehr müde ist versteckt sie gut, und wir haben einen fröhlichen, gemeinsamen Abend. Sie passt perfekt in unsere Gruppe— es fühlt sich nicht so an als ob eine Fremde zu Besuch wäre, sondern eine Freundin. Natürlich.
Irgendwann gehen wir zu Bett, wir alle brauchen dringend Schlaf.
Am nächsten Morgen kommen unsere Freundinnen wieder zu uns in die Wohnung und wir haben ein gemeinsames Frühstück, bevor unser nächtlicher Gast weiterzieht, zu dem Bus der sie endlich zu ihrer Endstation bringen soll.
Sie dankt mir für die spontane Hilfe, doch tatsächlich fühle ich mich eher danach, ihr für ihren Besuch zu danken— dabei vergessend, dass es ja nicht geplant war— denn ich habe es wirklich genossen, sie bei uns zu haben. Freundschaften sind schon unter seltsameren Umständen geschlossen worden.
60) Lernen, nicht zu verurteilen
Neben vielen anderen Dingen ist Kopenhagen auch das Zuhause für einen Organisation, die sich “Human Library” (“Menneskebiblioteket”).
Es ist eine Organisation mit dem Ziel, Vorurteile von Randgruppen, Außenseitern, durch persönliche Begegnungen aus dem Weg zu räumen. Bei ihren Veranstaltungen kann man mit den offenen “Büchern” reden— das sind Menschen, die möglicherweise psychische Probleme hatten, ungewöhnlich aussehen, traumatische Erlebnisse hatten… und die sich bereit erklärt haben, ihre Perspektive, ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen. Es ist ein sicherer Ort um Menschen zu treffen, mit denen man sonst nicht reden würde, Fragen zu stellen, die man sonst nicht ansprechen würde. Ein Gesicht zu haben, eine Person mit der man redet. Mit ihnen reden, nicht über sie, um sich den Vorurteilen, die wir haben, zu stellen und sie zu überwinden.
Ich wusste von der Organisation schon seit einer ganzen Weile, aber hatte lange Zeit nicht die Möglichkeit sie zu besuchen. Jetzt war ich zurück in der Öresundregion, und hatte von dem Offenen Lesegarten, den sie im Sommer jeden zweiten Sonntag in Kopenhagen veranstalten, gelesen. Also entschied ich dort einen sonnigen Sonntag einzugehen. Gesagt, getan.
Ich war nicht an einer bestimmten Person oder Thema interessiert, sondern wollte sehen wie es generell funktioniert, wie die Atmosphäre ist, wie die Leute sich unterhalten. Deswegen brauchte ich, als ich ankam und gefragt wurde, welches “Buch” ich “lesen” wollte, eine Weile um mich zu entscheiden. Zugegeben, ich war auch unsicher, ob ich über alle der Themen etwas hören wollte. Nicht wissend wie sich zu verhalten, reagieren, was zu fragen.
Ich entschied mich dann für das “Buch” über Autismus, und sprach mit dem Mann über das Bedürfnis, dazuzugehören, zu einer Gruppe.
Später sprach ich mit einer zweiten Person, eine Frau deren Vater Alkoholkrank war, und wir haben viel über Familie gesprochen.
Und letztendlich mit einer jungen Frau, die eine Überlebende von Inzucht ist, weil sie von ihrem (Stief)Vater sexuell missbraucht wurde. Die vorherigen Geschichten waren interessant, und durch sie habe ich viel über die Schwierigkeiten, die die Betreffenden in ihren Leben hatten, gelernt. Doch diese Unterhaltung hat sich anders angefühlt, weil ich etwas gefühlt habe. Es war nicht ihre Geschichte selbst, die mich am meisten beeindruckt hat, sondern ihre Persönlichkeit und die Botschaften, die sie mir mit auf den Weg gegeben hat.
Dass, trotz dem, was ihr über Jahre in ihrer Kindheit und Jugend widerfahren ist, ihre größte Sorge gilt, andere von Leid zu beschützen. Ihre Familie vor Schmerz zu schützen. Sie had viel Mitgefühl und hat nicht nur ihre Geschichte erzählt, sondern auch meinen Gedanken zugehört. We haben über das Gefühl von Schuld, wenn es einem gut geht gesprochen, und darüber das Leben zu genießen. Wir haben über Gefühle zeigen und Weinen gesprochen, und hatten dann selbst Tränen in unseren Augen.
Normalerweise kann man ein Buch für dreißig Minuten für eine Unterhaltung “ausleihen”. Wir haben glücklicherweise etwas mehr Zeit bekommen. Als wir uns verabschiedeten, fragte sie mich ob ich eine Umarmung zum Abschied wollte— ich nahm sie dankbar an. Ich hoffe, dass ich mich immer an sie erinnere.
Danke dir!
59) Die Anderen Seiten von Srebrenica
Eine Unterhaltung jenseits des Völkermords mit der jungen Generation
“In den ersten Tagen habe ich mich schuldig gefühlt, weil ich Srebrenica wirklich genossen habe. Es ist so wunderschön und verblüffend. Ich mag kleine Städte in den Bergen. Ich dachte, ich sollte […] wütend darüber sein, was passiert ist. […] Als ob ich diese [guten] Gefühle nicht haben sollte.”1 (Sara)
Ich fühle mit Sara in diesem Punkt, und verstehe ihre Gedanken. Jedoch– wer bestimmt was wir “fühlen sollten”, und von welcher Sicht auf Srebrenica her stammt das?
Im Juli 2021 hatte ich die Chance an einer Sommerschule in Srebrenica teilzunehmen, organisiert durch das Post Conflict Research Center (PCRC) und das Srebrenica Memorial Center. Für mich war das die erste Begegnung mit jungen Leuten von Bosnien und Herzegovina (BiH), und auch das erste Mal dass ich die Gegend um Srebrenica und die Stadt selbst sehen konnte– nicht nur in einer Dokumentation oder auf Fotos in einem Museum. Am Ende der Woche verließ ich die Sommerschule mit dem Gefühl sehr viel über das Massaker in Srebrenica und den Völermord während des Bosnienkrieges gelernt zu haben. Ich wollte, dass Leute zu Hause dem mehr Beachtung schenken. Doch ich wollte auch, dass sie hinter das allseits bekannte und alles beherrschende Bild von Srebrenica schauen. Ich habe verschiedene Seiten sehen können, Erfreuliches, Hässliches und Neutrales, und ich sah es als wichtig an, dass andere ebenfalls einige dieser schönen Seiten von Srebrenica erkennen können.
Das kann als Argument für Positiven Journalismus2 gewertet werden. Dieses Konzept, welches in den letzten Jahren aufgekommen ist, hat zum Ziel positiven Neuigkeiten einen größere Anteil in den Nachrichten einzuräumen. Es ist eine Reaktion auf die Dominanz negativer Nachrichten, wie Problemen und Störungen, welche ein verzerrtes Bild der Realität (sprich ein über die Maßen negatives) zeichnen. Diese Art von Journalismus kann entmutigend sein: viele und konstant schlechte Nachrichten können ein Gefühl von Hilflosigkeit schaffen, da Probleme zu groß erscheinen um sie zu lösen. Positiver Journalismus bricht damit, und beabsichtigt diesen gemein gültige und einseitige Art von Journalismus zu vervollständigen und zu erweitern. Indem verschiedene Perspektiven in der Arbeit verwendet werden, kann ein vielfältigeres Bild gezeigt werden. Positive Nachrichten, die ergebnis-orientiert sind, können Menschen unterstützen und motivieren sich auch in schweren Zeiten für die Gesellschaft einzusetzen. Positiver Journalismus soll dabei keine Propaganda oder falscher Optimismus sein, welcher schlechte Nachrichten in hübschen Farben malt. Auch Fallen wie zu starke Vereinfachung sind zu vermeiden. Das Ziel ist stattdessen eine insgesamt gut ausbalancierte Berichterstattung. Kritisches Berichten schließt einen Blick auf gute Ergebnisse und positive Entwicklungen nicht aus.
Warum ist mir das im Fall von Srebrenica wichtig? Wie Sara’s Zitat demonstriert hat scheinen einige von uns zu denken, dass es nicht erlaubt oder sogar möglich ist hier glücklich zu sein.Und wenn dies das einzige Narrativ, die einzige Idee des Ortes bekommt, laufen wir Gefahr dass es auch die Realität wird. Deshalb beabsichtige ich mit diesem Artikel einen Einblick in andere Aspekte, andere Geschichten und Perspektiven die Srebrenica betreffen, zu geben.
Damit bin ich bei weitem nicht die erste, die diesen Ansatz in diesem Kontext hat. Menschen aus Srebrenica, die wie Hasan Hasanovic das Massaker erlebt haben, haben bereits darüber geredet, gesagt dass wir auf die verschiedenen Seiten von Srebrenica und das alltägliche Leben abseits der Zeremonien schauen sollen. Auch ein tatsächliches Projekt daraus zu kreieren um die positiven Geschichten der Stadt zu erzählen ist keine neue Idee, wie das eSrebrenica portal zeigt. Moll3 gibt Beispiele von zwei Initiativen in BiH, die positive Geschichten von Helfenden und Rettenden während des Krieges sammeln. Geschichten, die Menschen verbinden und einigen, anstatt sie zu spalten. Die Motivation dafür war das dominante Narrativ von Schuld und Opferrolle zu durchbrechen, die Zweiteilung von Tätern und Opfern zu überwinden und hervorzuheben, dass selbst in einem Krieg, gute Taten und Menschlichkeit gefunden werden können. Diese Geschichte zeigt, dass es gute Menschen gibt und dass diese Seiten von Frieden innerhalb eines Konfliktes nicht vergessen werden. Sie geben Hoffnung, auch für die Zukunft. Und da die positiven Geschichten andere und differenzierte Perspektiven auf die Vergangenheit öffnen, ist es möglich auch für die Zukunft andere Wege zu sehen. Ein weiteres, ähnliches Beispiel wäre das Ordinary Heroes project von PCRC. Es gibt weitere Beispiele, doch der folgende Text handelt von unserem Lernen und Unterhalten über die anderen Seiten von Srebrenica.
Die Gespräche zum Mittagessen, die wir gemeinsam in der Sommerschule hatten und während denen wir darüber redeten, was über Srebrenica bekannt ist und weswegen Menschen dorthin kommen, resultierte in einem Gruppeninterview für diesen Artikel: Ausschnitte einer Unterhaltung mit fünf jungen Menschen4 darüber, welche Seiten oder Aspekte wir von Srebrenica sehen. Und welche wir wollen, dass die Welt sie zu sehen bekommt.
Der erste Eindruck– und dann einige mehr
Das erste, wonach ich fragte, war was die anderen über die Stadt dachten, denn ich war neugierig nun, da wir alle einmal dort gewesen waren. Sehr schnell landeten und blieben ihre Reflektionen bei der Gedenkstätte und dem Friedhof. Und wenn ich danach fragte, was sie über Srebrenica gelernt hatten, schienen sie es als gleichgesetzt mit lernen über den Völkermord zu verstehen. Denn dies ist die omnipräsente Assoziation und für viele Menschen das einzige Wissen, das sie über den Ort haben.
Ich möchte Srebrenica allerdings auch außerhalb dieses Rahmens besprechen. Dieser Ort ist mehr als das, hat viele Gesichter. Sandro, dessen Familie aus Srebrenica kommt, sagt zu jedem Menschen, der “von Srebrenica wegen des Genozid’s gehört hat …[dass] wir auch eine andere, hellere Seite haben.” Er erzählte uns von der Geschichte der Stadt, wie alt sie ist, wie sie das Römische Imperium und Österreich-Ungarische Monarchie gesehen hat, wie wichtig sie für die Region war, und wie sie einst für Bergbau und als Süßwasser Quellort bekannt. Er redet gerne mit Leuten und erzählt seinen Freunden und anderen Besucher*innen von den Schönheiten der Stadt:
“Und wenn ich mit ihnen rede, versuche ich meine Erfahrung und all die historischen Seiten mit ihnen zu teilen, zu zeigen dass Srebrenica keine große Stadt war […], aber es eine Stadt mit großer Geschichte hier ist. Und wenn du dich auf andere Dinge fokussierst, vor dem Völkermord, dann war Srebrenica eine wirklich wichtige Stadt, nicht nur für Bosnien, sondern für den ganzen Balkan.”
Darauffolgend fragte ich, was sie speziell über die Stadt Srebrenica selbst dachten, wo die meisten Teilnehmer*innen der Sommerschule die Woche über untergebracht waren. Es erschien oft als ob Leute– da der Völkermord oft das einzige ist, was sie über Srebrenica wissen, solange sie nicht aus der Gegend kommen– sich die Stadt als leer, ohne Leben und ohne Perspektiven vorstellen. Und für einige von uns, dieses Bild stand auch nach unserem Besuch: “Ich weiß ich habe gehört dass Srebrenica eine leere Stadt ist, aber als ich da war und gesehen habe, dass es leer war und keiner da war, da hat es sich wirklich leer angefühlt […] und das ist so traurig.” (Belmin).
Für andere war das nicht der Fall. Das einseitige Bild von Srebrenica, aufgebaut auf Medienberichten sowie Fotos und Geschichten über den Völkermord, begann zu bröckeln und diverser zu werden. Kristina sagte: “Ich war auch so überrascht von der wunderschönen Natur […] ich war mir immer des Potenzials der Stadt sicher. Aber es ist nicht einmal zu erwähnen, dass da viel Schönheit ist in Srebrenica.” Und auf eine ähnliche Weise gab Vildana zu, dass “als ich herkam, mein gesamtes Bild der Stadt verändert wurde.” Sie hat für sich selbst gelernt,
“dass Srebrenica großartige Jugendliche hat, dass Srebrenica eine großartige Stadt ist, wir müssen uns daran erinnern und für mich, dass war der wichtigste Teil der Sommerschule. Die Erfahrung der Stadt. Mein ganzes Bild hat sich geändert und […] ich würde gerne im Winter wiederkommen, um zu sehen wie die Stadt zu der Jahreszeit aussieht.” (Vildana)
Eine weitere Teilnehmerin, Sara, sagte:
“Die Einstellung und Lebensweise der Menschen in Srebrenica ist einfach… ‘wir kümmern uns nicht um das Ende der Welt, wir müssen es irgendwie möglich machen’, verstehst du? Ich mag diesen Ansatz, deswegen habe ich wirklich alles was passiert ist genossen und die Unterstützung, die ich bekommen habe, weißt du. […] Das ist etwas, dass ich nicht erklären kann und die richtigen Worte gerade dafür finde, aber ich liebe Srebrenica.” (Sara)
Zu hören, dass Menschen ganz einfach diese hellen Lichter finden und in der Lage sind, das Gute zu sehen, gibt mir viel Hoffnung für die Zukunft, Hoffnung das Srebrenica nicht die leere Stadt bleibt, die die Leute zu finden erwarten. Man kann jedoch weder ignorieren noch beschönigen, dass Löcher, Risse und Leere immer noch existieren, oder das manche nach wie vor Poster von Kriegsverbrechern feiern.
Nachdem er so viel Lob über die Stadt gehört hatte meinte Sandro– der zuvor selbst noch viele gute Seiten aufgezählt hatte– dass Srebrenica in der tat leer ist, und dass es laut ihm dort momentan keine Perspektiven gibt: “Ich sehe dass Srebrenica eine Geisterstadt ist und so, und wir müssen diese Stadt aufwecken, nicht nur diese Stadt sondern das ganze Land.”
Was ich sagen möchte ist dass ich nicht versuche, die Leere zu romantisieren, sondern zu zeigen, dass es mehr als nur einen Blick auf die Sache gibt, und dass in Srebrenica Potenzial ist welches unterstützt werden muss um über ein Ereignis hinauszuwachsen, mehr als nur eine Geschichte zu erzählen.
“Wenn du über Srebrenica redest musst du wissen dass Srebrenica nicht nur der Völkermord ist, aber wenn du über Völkermord redest musst du verstehen, dass nicht nur Srebrenica sondern die ganze Welt großes Potezial verloren hat […]”. (Sandro)
Das bringt mich zu dem größten Potenzial, nämlich junge Leute– die oft wegziehen, was das Potenzial unerfüllt und Probleme ungelöst zurücklässt.
Über Jugend & Zukunft
Junger Leute, die aus Srebrenica wegziehen und in die EU gehen wegen nicht vorhandenen Perspektiven, ist laut Sandro kein Einzelfall in den Westbalkanstaaten. Ob es darum geht einen guten Job zu bekommen oder echte Veränderung zu bewirken, sie suchen sie woanders. Wie Sandro lieben diese jungen Leute ihr Zuhause und wollen etwas bewegen, doch oft fehlen die Möglichkeiten dazu. Deswegen fand ich es motivierend zu hören und zu sehen, dass es Menschen gibt, die diese große Herausforderung annehmen und aktiv daran arbeiten, die Zukunft von Srebrenica zu gestalten.
“Die Stadt als Stadt […] hat sich manchmal leer angefühlt, aber die Leute in der Stadt haben mich erstaunt, vor allem die jungen Leute. Ich war so begeistert von ihrer Positivität, Freude und solchen Dingen, wie sehr sie versucht haben Srebrenica in anderen Lichtern als nur den Völkermord zu präsentieren. Sie versuchten Srebrenica als Stadt zu bewerben. Ich weiß, es ist wichtig, dass wir wissen was dort passiert ist, aber gleichzeitig müssen wir auch wissen, dass Srebrenica nicht nur das ist.” (Vildana)
Organisationen oder lokale Nachrichten berichten manchmal über die alltäglichen Helden von nebenan. Diese Aspekte von Srebrenica sichtbar zu machen ist ein Weg um das Potenzial wachsen und Früchte darin tragen zu lassen, seine Vergangenheit zu überwinden.
“Ich war sehr überrascht wie alle gesagt haben, mit der Jugend, wir schlau sie sind… Vielleicht ist das ein Klischee, vielleicht ist das nicht was wir denken sollten wenn wir sie zuerst treffen, aber ich war wirklich überrascht dass sie so voller Leben sind. […] sie sind die Zukunft und wir haben darüber nachgedacht, wie Srebrenica gemeinsam mit ihnen sich entwickeln kann.” (Kristina)
Als wir uns darüber unterhalten haben hat es mich an die (politisch) strittige Debatte erinnert, die im Herzen der Diskussion über Srebrenicas Zukunft ist. Es ist die Frage von Versöhnung, oft dargestellt als Frage zwischen Wahrheit aufdecken oder Konflikte wieder anstacheln, Versöhnung oder dem Feind Nachgeben, die Vergangenheit aufarbeiten um eine Wiederholung zu vermeiden oder weitermachen und in die Zukunft blicken? Diese Fragen, die sowohl in Wissenschaft als auch Politik diskutiert werden, hatte ich erwartet beeinflussen signifikant auch das Leben in Srebrenica. Ich hätte von Anfang an nicht in entweder-oder Begriffen denken sollen, und war deshalb von einigen der Antworten überrascht, beispielsweise als Sandro teilte was sein Vater ihm erzählt hatte:
“‘[Lern] alles was du lernen kannst aus dem Internet und so, aber… das einzige was ich dir sagen will, ist dass du menschlich seien musst, mit all diesen Leuten, egal ob der Vater von deinem Freund einen teil deiner Familie getötet hat oder so, das ist nicht wichtig. Es ist wichtig, aber für dich ist es nicht wichtig. Du bist nach dem Krieg geboren worden, du musst dein Leben leben.’”
Diese Art von Empfindungen, davon weiter weiter zu machen, habe ich mehrfach gehört. Haben die Leute ihre Antwort gefunden, ohne darüber zu reden? Ich weiß es nicht. Den Eindruck, den ich hatte, war dass sie mehr mit ihren jetzigen Leben und dessen Alltagsproblemen beschäftigt sind: einen Beruf zu haben, ein Einkommen, eine Zukunft, das sind die dringendsten Probleme um die sich zu kümmern gilt. Das bedeutet nicht, dass sie über den Völkermord vergessen hätten– aber sie wollen nicht darin feststecken, nur zurückzublicken, sondern auch sich vorwärts bewegen und eine Zukunft bauen: “Wenn du über die Vergangenheit nachdenkst, das ist okay, aber wir müssen über unsere Zukunft und die Zukunft unserer Kinder, unserer Enkel und so nachdenken…” (Sandro).
Es gab auch einen Moment in dem Sandro das Interview in die Hand nahm und wir für einen Moment die Rollen tauschten, denn er fragte mich was ich über die Tage in Srebrenica, Bratunac, Bosnien und so fühle und denke. Nach meiner Antwort fragte er: “[…] würdest du mir glauben, dass ich denke niemand wird dich fragen, in Srebrenica, niemand wird dich diese Frage fragen und niemand würde sich darum kümmern was du darüber denkst was hier passiert ist […]?” Er erzählte mir dass die Leute einfach nur leben und über ihr “normales Leben” reden wollen. Nicht, dass die Vergangenheit egal wäre, aber zumindest spielt sie im Alltag keine Rolle, denn da schauen sie in die Zukunft. Das ist nur eine Sichtweise von vielen. Andere würden möglicherweise sagen, dass sie nicht weitermachen können, dass es keine Chance für eine gute Zukunft gibt, solange die Vergangenheit nicht aufgearbeitet ist und es Gerechtigkeit gibt. Die Debatten darüber sind wieder aufgeflammt als Diskussionen über das neue Genozidverleugnungsgesetzt in BiH aufkamen.
Lernen: erst in der Schule, dann vor Ort?
“In Bosnien lernen wir nicht über den Krieg in Bosnien, und ich weiß dass ist schockierend für dich, aber Menschen hier müssen es von ihren Eltern, Vätern, Großvätern oder so lernen. Das erste Mal dass ich über den Krieg gehört habe […] war wegen Iron Maiden und deren Konzert in Sarajevo während der Belagerung von Sarajevo.” (Sandro)
Wir hatten angefangen darüber zu reden, war jede*r von uns über Srebrenica wusste und was wir zuvor darüber gelernt hatten. Wie oft in erklärt in Debatten über Probleme von Friedenskonsolidierung und Genozidverleugnung in Bosnien, niemand hatte viel in der Schule über den Völkermord gelernt. Indem das Thema nicht durch formale Bildung angesprochen wird, wird Genozidverleugnung fortgesetzt. Die Gruppe erzählte mir, wie schwierig es ist, das Thema zu diskutieren. Vildana beschrieb wie sie als jüngerer Teenager einmal in Srebrenica war, und sehr verwirrt darüber war, was sie über das was dort passiert war fühlen sollte. In Kontrast dazu, in der Sommerschule “Ich war für sieben Tage dort, also hatte ich Zeit alles zu verarbeiten und mehr darüber nachzudenken, [falls] ich Fragen hatte nachzufragen. Und ich hatte Leute mit denen ich Diskussionen haben konnte und meine Meinung teilen konnte.” Vildana sagte, dass während sie vorher die grundlegenden Informationen kannte, sie nichts über die Menschen und ihre Geschichten wusste. Was vielleicht fehlt, neben dem faktischen Wissen, ist genau das, ein wirkliches Verstehen der Verbrechen.
Trotz dieser Bildungslücken wussten alle von uns, die in der Sommerschule waren, von den Ereignisse um Srebrenica 1995, und alle hatte Interesse mehr darüber zu lernen. Allerdings war keiner wirklich vorbereitet dafür, was wir während der Tage dort lernen oder fühlen würden. An einem Ort zu sein ist etwas komplett anderes als darüber zu lesen.
“Wenn ich all die Gräber sehe und das Zeug in der Gedenkstätte, da fühlst du einen teil des Genozid’s und es ist ein viel besseres Gefühl als es in der Schule zu lernen. Mein Wissen ist während dieses Camps im Juli gewachsen.” (Belmin)
Es war nicht immer eine einfache Erfahrung, die Orte zu sehen wo Dinge passiert waren, namen zu lesen die für manche aus der Gruppe zu vertraut waren. Dennoch war sich die Gruppe einig, dass mehr Leute selbst nach Srebrenica gehen sollte– um eigene Erfahrungen zu sammeln, welche auf eine andere Art Interesse wecken als über etwas aus der Entfernung zu lernen.
“Ich denke, dass mehr Menschen dorthin gehen müssen um die Geschichte wirklich zu verstehen. […] dort zu sein und mit den Müttern von Srebrenica zu reden, mit der Jugend zu reden oder Leuten die es erlebt haben, es ist eine andere Erfahrung.” (Sara)
Wir haben es geschätzt, dass wir für mehrere tage dort sein konnten. Unserer Meinung nach ist ein Tagesbesuch zu der jährlichen Zeremonie zu kurz um wirklich zu verstehen was die Gedenkstätte ausmacht, auch wenn auch eine Woche immer noch zu kurz ist. Mehr über einen Ort zu lernen heißt auch hinter die großen Events und Narrative, die uns normalerweise präsentiert werden, zu blicken. Das bedeutet nicht, dass die Gedenkfeier nicht sehr wichtig zum Erinnern und Anerkennen der Verbrechen ist, es bedeutet lediglich dass Handeln nicht dort aufhören sollte.
“nach Srebrenica zu kommen und über die Individualität von Leuten zu lernen, über die Jugendlichen von Srebrenica und nicht nur… natürlich sollte man die Gedenkstätte besuchen und den Rest, aber ich finde […] man bekommt einen weitere Perspektive wenn man auch in eine Stadt wie Bratunac fährt und dann in Srebrenica übernachtet.”. (Kristina)
In unserer Unterhaltung haben wir generell übereingestimmt, dass Bildung und Wissen über den Völkermord ausschlaggebend ist für eine Vermeidung in der Zukunft, und um Hassreden und Verbrechen in der Zukunft entgegen zu wirken.
“Ich denke, dass das große Ding über Srebrenica der Genozid ist und wir müssen über den Genozid reden, damit wir es nicht noch einmal erleben müssen. Es ist ein wohl bekannter historischer Fakt, dass in Višegrad, 1943, also 50 Jahre vor Srebrenica, ein Genozid war wo 1000 Muslime getötet wurden. Und dann nach 50 Jahren wieder, danach haben wir einen Völkermord. Wir können also beobachten dass ein Genozid etwas ist, das es schon vorher gab, das wieder passiert und möglicherweise wieder in Bosnien und Herzegovina passieren könnte, also müssen wir darüber reden, wir müssen uns dieses Phänomens bewusst sein […].” (Belmin)
Sich der Frage von Verantwortlichkeiten bewusst, bemerkte Sara außerdem:
“Wir müssen in Betracht ziehen, dass Menschen, die das durchlebt haben, nicht verpflichtet sind oder nicht… sie sind nicht dafür da um uns darüber zu unterrichten was passiert ist. Wir müssen das selbst machen.” (Sara)
Momentan scheint die Welt sich einmal im Jahr, am 7. July zum Jahrestag des Genozid’s, an Srebrenica zu erinnern. Was wäre, wenn Menschen von außerhalb der Region, wenn wir alle, uns öfter als nur dann damit beschäftigen? Was, wenn wir nicht nur im Kontext des Balkans über “nie wieder” reden, sondern es bemerken und benennen wann immer die gleichen Muster heute in anderen Orten auftreten? Und was wenn wir unsere Sichtweise und unser Bild von Srebrenica jenseits des Völkermords zu all den anderen Dingen die die Stadt ausmachen, ausweiten?
Diejenigen, die in der Sommerschule waren sind sicher nicht repräsentativ für alle jungen Menschen im Land. Aber sie zeigen, dass es Jugend gibt die interessiert, informiert und von diesen Themen betroffen ist.
Eine letzte Frage…
In diesem Artikel wollte ich hinter die typischen Geschichten, hinter die jährliche Gedenkfeier und die “nie wieder” Reden blicken, und hören worüber seltener geredet wird: den alltäglichen Blickwinkel in diesen Narrativen, und die Perspektiven daneben. In der Sommerschule war Raum um sich auszutauschen, über verschiedene Blickwinkel zu reden. Offene und sichere Räume für diesen Zweck sind noch häufiger gebraucht. Was ich von unserer Unterhaltung und der Woche im Sommer gelernt habe waren viele verschiedene Ansichten auf Srebrenica. Nicht alle, aber mehr als zuvor. Ich hatte die Chance mir selbst ein Bild von dem Ort zu machen, welches ich weiter entwickle (und ich lade alle ein, das gleiche zu tun).
Das Gedenken des Völkermords ist sehr wichtig, genauso wie Forschung darüber wie es dazu kommen konnte, Bildung und Prävention von zukünftigen Fällen. Ich möchte jedoch auch erinnern, dass Srebrenica als Ort mehr ist als dieser Genozid, und das Genozid ein Phänomen ist, welches nicht nur diese Region betrifft. Verbrechen wie ein Völkermord muss als Problem für die gesamte Menschheit betrachtet werden, und nicht nur betreffend Srebrenica, Ruanda oder Armenien. Und ein Gedenken allein reicht nicht aus um es als Problem anzugehen, denn dann kann der Eindruck entstehen, dass bei so einem Event die Leute für einen Moment traurig und schockiert sind und es ihnen Leid tut, nur um den Ort im nächsten Moment wieder zu verlassen und damit auch das Problem hinter sich zu lassen. Ein weiterer grund, unsere Aufmerksamkeit nicht auf einen Tag im Jahr und Srebrenica auf das Massaker zu limitieren.
Ich argumentiere, dass es problematisch ist, nur ein Narrativ, in dem Fall ein negatives, zu zeigen. Eine differenziertes Bild ist nötig um hinter Gegensätze und festgefahrene Kategorien wie Täter und Opfer zu schauen– oder Frieden und Konflikt. Denn positive Seiten eines Ortes zu zeigen, das Potenzial und das Licht, kann inspirieren und denjenigen Mut zusprechen, die etwas Neues in der Region kreieren wollen, junge Leute die bleiben und ein Leben oder Unternehmen aufbauen wollen. Katastrophen schaffen es schneller in die Schlagzeilen, aber wenn man nur auf die schlechte Vergangenheit schaut, läuft man Gefahr das Potenzial der Zukunft zu übersehen. Das Potenzial die Probleme der Vergangenheit zu überwinden. Deswegen sehe ich es als wichtig an, nach verschiedenen Perspektiven und Meinungen zu suchen, durch verschiedene Linsen zu sehen, von verschiedenen Seiten an ein Thema heranzugehen, welche seine komplexe Realität ausmachen– nicht nur im Fall von Srebrenica, sondern überall.
Meine letzte Frage an die Gruppe war, was sie wollen würden, das die Welt von Srebrenica sieht und weiß. Der Aspekt von Potenzial wurde mehrfach genannt. Der Stadt die Möglichkeit zu geben zu wachsen und andere Seiten zu zeigen, und die Welt zu motivieren, diese auch zu erfahren.
“Ich möchte nur sagen, dass Menschen in Bosnien, und Menschen überall auf der Welt müssen wissen, dass Srebrenica keine kummervolle Geisterstadt ist. Für mich ist sie Dornröschen, eine schlafende Schönheit, die von uns allen aufgeweckt werden muss […]. Und wir müssen es von dieser Perspektive her sehen und wir müssen jungen Leuten eine Chance geben zu zeigen, in Srebrenica, zu zeigen was sie wirklich bewegen können, denn sie können viel. Und ich glaube, sie sind sich nicht einmal der Kraft bewusst… wenn sie die Macht hätten, was sie tun würden für ihre lokale Gemeinschaft und für das Land. Und für mich, das ist die wichtigste Botschaft, die wir behalten müssen, […] was Srebrenica in Wirklichkeit ist.” (Vildana)
Und auch wenn wir uns uneinig darüber waren, ob Srebrenica jetzt eine leere Stadt ist oder nicht, sagte Sandro, dass wir Kindern Vorbilder geben müssen, die die Welt zum besseren verändern, dass wir über Nicola Tesla anstatt von Ratio Mladić als Held sprechen sollten:
“Wir müssen unseren Kindern beibringen wirklich gut und wirklich bekannt und so zu sein, weil sie der Welt helfen wollen. Das ist meine Nachricht zum Abschluss.”
Dem stimme ich zu, denn die Geschichten die wir uns erzählen, sie prägen uns, lehren uns, inspirieren uns.
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1) Die Zitate wurden von der Autorin aus dem Englischen übersetzt.
2) Positiver Journalismus wird manchmal gleichgesetzt mit “Konstruktivem Journalismus”, während einige Autor*innen argumentieren, dass es zwischen beiden Arten Unterschiede gibt.
3) Moll, N. (2019) “Promoting ‘Positive Stories’ of Help and Rescue from the 1992-1995 War in Bosnia and Herzegovina. An Alternative to the Dichotomy of Guilt and Victimhood?”, Südosteuropa, 67(4), pp. 447-475.
4) Diese Unterhaltung war mit fünf jungen Menschen aus BiH oder mit Bosnischer Familie. Die Familie von einer Person war aus Srebrenica, die anderen von anderen Städten des Landes. Wir hatten uns alle in der Sommerschule getroffen. Manche waren vorher schon einmal in Srebrenica, andere nicht.
58) Was braucht ihr?
Mir ist klar, dass viele schreckliche Dinge gerade geschehen, und es aber auch viel Solidarität zu sehen gibt. Viel wichtiges wurde bereits gesagt— über die Bedeutung des Konflikts gerade [Einmarsch von Russland in die Ukraine im Februar 2022], wie auch Kritik über Europas (Nicht-) Reaktion in anderen Konflikten.
Viele meiner Mitstudent*innen waren recht betroffen von dem Konflikt. Nicht direkt betroffen, sondern eher psychisch auf verschiedene Arten und aus verschiedenen Gründen, aber es hat sie dennoch beeinträchtigt. Und während ich es selbst schwierig fand zu erkennen, wie ich ihnen helfen könnte darüber zu reden, bot jemand anderes seine Hilfe an.
Ein Dozent von uns, der die Sorgen und Gedanken der Student*innen bemerkt hatte, bot an zu ihm zu kommen und mit ihm zu reden, wenn wir das wollten. Nichts großes, einfach eine Geste die zeigte, dass er für uns da ist. Später taten andere im Institut ähnliches. Somit haben einige derjenigen, zu denen wir unser ganzes Studium hinweg wegen der Corona Pandemie so wenig Kontakt und Bezug hatten, gezeigt dass sie sich um uns sorgen und für uns da sind. Es hat sich gut angefühlt gesehen zu werden, bedacht zu werden. Und jetzt weiß ich wieder, dass es wichtig ist einfach Leute selbst sagen zu lassen, was sie brauchen.
Das soll uns nicht so darstellen als wären wir als Bürger*innen in Nordeuropa gerade diejenigen, die sehr unter diesem Konflikt leiden würden. Es zeigt für mich lediglich die Güte von so kleinen Gesten, und die von Empathie. Und hoffentlich hilft, dass jemand für uns da ist, uns auch dabei, dass wir anderen helfen können wenn Hilfe gebraucht wird.
57) Von dem Glück, jemanden zu finden der genauso verrückt ist wie man selbst
Neulich waren wir zu zweit sportlich unterwegs, und es war super. Normalerweise sind wir beide alleine unterwegs, weil wir niemanden haben, der mitkommen könnte. Dann sind wir zu zweit unterwegs gewesen, und es hat so viel Spaß gemacht. Auf der sportlichen Seite, und der persönlichen. Kennt ihr das, wenn man eine Unterhaltung hat, die leicht ist und einem Spaß macht? Wenn man in kurzer Zeit über die “was arbeitest du” oder “worüber schreibst du deine Abschlussarbeit” Fragen hinausgeht, und sich stattdessen Gedanken darüber macht, was man von Søren Kierkegaard und seiner Position zu Glauben und Ethik hält. Oder darüber, dass Physiotherapeuten und -therapeutinnen wirken, als wären sie der Magie fähig. Oder darüber, dass man sich dafür schämt, gerne zur Arbeit zu gehen, weil alle anderen auf die Arbeit schimpfen, obwohl es doch eigentlich toll ist wenn man froh darüber sein kann. Oder festzustellen, dass die andere Person genauso verrückt ist wie man selbst, und das als etwas gutes zu feiern.
So waren wir ein paar Stunden unterwegs. Und froh darüber zu sein, so einen gemeinsamen Ausflug gemacht zu haben, wird nur durch ein was getoppt: wenn die andere Person sich genauso gefreut hat, und auch in der Lage ist, das zu sagen. Gemeinsam fröhlich und dankbar sein. Und selbst wenn es nur Freundschaft für einen Tag ist, die Erinnerung bleibt.
55) Huckepack
“Vor kurzem war Rennsteiglauf, ich bin den Halbmarathon mitgelaufen. 21km durch den Thüringer Wald, ständig hoch und steil wieder bergab. Wegen der Coronasituation haben sie den Start auseinander gezogen, wir starteten in Blocks und Gassen, mit Zeitabstand. Ich war im ersten Startblock, und deswegen recht früh im Ziel. Bis meine ganze Familie, die über den Tag verteilt starten, alle da waren hatte ich mehrere Stunden Zeit um mir die Zielläufe anzusehen. Das ist immer spannend— all die verschiedenen Menschen zu sehen, ihre Gesichtsausdrücke, Laufstile, Reaktionen, …
Da waren viele mit aufgeschürften Knien, Ellenbogen oder auch am Kopf blutend. Der Rennsteig hat viele Abschnitte voller Wurzeln und Steine, man kann leicht fallen. Die die können stehen auf und laufen tapfer weiter. Andere beenden das Rennen deswegen. Mir wurde erzählt wie Leute um einen Gestürzten drumherum gelaufen sind, ohne zu helfen. Doch in einem anderen Fall hat jemand die eigene Leistung, eine eigene gute Zielzeit, dem Helfen hinten angestellt:
Vielleicht zwanzig Minuten nach mir näherte sich ein besonderes Paar dem Ziel: ein junger Mann der einen etwas Älteren auf dem Rücken Huckepack bis über die Ziellinie trug. Die Moderatoren fragten sie warum. Dem älteren der beiden war sozusagen die Luft ausgegangen, er war fertig und konnte einfach nicht mehr weiterlaufen. Da hat der andere ihn getragen. Ich weiß nichts über die beiden, ob sie sich kannten, verwandt sind, oder ob es eine zufällige Bekanntschaft war— doch wie auch immer, ich habe Riesen Respekt für die Entscheidung, für jemanden anders zu laufen, nicht nur für die eigene Leistung.”
54) Friedliches Spiel
Sport, Frieden und Konflikte… es gibt unterschiedliche Meinungen über die wahre Natur von Sport in der Hinsicht. Manche sagen, dass Sport vor allem Konkurrenzkampf fördert und es eine Art ist, Konflikte auszutragen. Andere heben hervor, wie durch Sport Werte wie Respekt und Fairness gelernt werden und wie es verschiedene Menschen in Kontakt miteinander bringt. Es gibt zahllose Beispiele für beide Realitäten.Als Geschichte von Menschlichkeit möchte ich vorstellen was Kinder, die an den Open Fun Football Schools teilgenommen haben, erzählen, als Beispiel dessen was möglich ist mit der einwenden Kraft des Sports— als Beispiel für die gute Wirkung die wir haben können.
Die Geschichten die ich hier vorstelle sind von den Fußball Schulen die in Bosnien und Herzegovina organisiert wurden, und von einer Schulklasse aus Dänemark besucht wurden. Bosnien und Herzegovina als Land kann als post-Konflikt oder Nachriegs- Gesellschaft beschrieben werden, und ist in vielerlei Hinsicht geprägt durch die schwierige politische Situation zwischen verschiedenen Gruppen, durch Trennung von Gruppen und Schweigen über Konflikte. Deswegen werden dort viele Friedensprojekte, wie die Fußballschulen, abgehalten— Projekte von unterschiedlichen Akteuren, mit unterschiedlichen Methoden und Erfolgen. Wissend dass es noch ein langer Weg ist bis zu dem was WissenschaftlerInnen einen ausgewachsenen “positiven Frieden” nennen, ist es hoffnungsvoll von diesen “change stories” (Wandlungsgeschichten) zu hörn:
“Meine Eltern waren zuerst nicht froh bei dem Gedanken daran, dass ich mit Kindern von anderen Minderheiten zusammen Fußball spiele. Zuerst wollten sie mich nicht spielen lassen. Nach dem Krieg war meinen Eltern sehr bewusst zu welcher Minderheit wir gehören, doch ich habe an der Fußballschule teilgenommen, und ihre Einstellung hat sich geändert. Jetzt versuchen die meisten Eltern gemeinsam Spaß zu haben, ungeachtet der Ethnie, und das macht mich froh.”
“Wir haben gelernt dass du ein Fußballspiel nicht alleine gewinnen kannst. Du musst zusammenarbeiten und Kroaten, Bosniaks und Serben waren gezwungen ein Team zu sein.”
“Die Fußballschulen waren ein Weckruf. Wir haben erkannt dass die Serben auch Menschen sind und nicht die Monster, als die sie immer dargestellt wurden. Wir haben über ihre Traditionen gelernt, welche— wie sich herausgestellt hat— nicht so viel anders als unsere waren.”
“Fußball ist eine Brücke zwischen Serben und Bosniaks. Wenn Fußball nicht gewesen wäre hätte ich nie Kontakt zu den Serben aufgenommen. Durch Fußball haben wir ein besseres Verständnis voneinander bekommen.“
Mehrere Zitate stellen heraus, dass durch das Projekt keiner geurteilt hat über den Hintergrund und das Aufwachsen der Kinder, sondern dass es nur wichtig war zusammen in einem Team spielen zu können. Und dass in diesen Teams alle gleich waren und nicht Menschen von verschiedenen Orten. Solche Treffpunkte sind wunderschön, denn dort können Kinder ihre eigenen Erfahrungen mit anderen machen.
(Diese “change stories” stammen von Interviews die die Dänischen SchülerInnen mit den Bosnischen SchülerInnen über die Fußballschulen gemacht haben (Bosniaks, SerbInnen und KroatInnen). Die Zitate sind selbstständig aus dem Englischen übersetzt. Mehr über das Projekt und die Geschichten könnt ihr auf der Website der verantwortlichen Organisation Cross Cultures hier lesen).
53) Schönes Gefühl
Ich habe mir Fotos angeschaut, von dem Tag wo ich mit Freunden am See war. Ganz ehrlich, ich habe wieder einmal gedacht, dass ich wirklich nicht hübsch bin und auch keinen schönen Körper habe. Nicht im Vergleich zu den anderen, auch nicht so und für sich genommen. Meine Gedanken, erzählt man nicht groß anderen.
Ausgerechnet noch am gleichen Tag, später beim Laufen, haben mir zwei Freunde gesagt, dass ich schön bin. Menschen, die ich bei so etwas ernst nehme, bei denen es weder komisch ist noch eine reine Höflichkeit. Es tut gut etwas so positives zu hören.
Jeder, jede kennt Momente in denen man sich nicht schön fühlt. Viel wird darüber geschrieben, was wir dazu denken, fühlen, machen, reden sollten. Für diesen Moment, in dieser Geschichte, half es dass jemand ganz einfach anderer Meinung war.
52) Emotionen an die Oberfläche holen
Morgen ist der Jahrestag und die Gedenkfeier zur Erinnerung des Völkermordes in Srebrenica. Seit mehreren Tagen bin ich aufgrund meines Praktikums dort, gemeinsam mit vielen anderen jungen Leuten, hauptsächlich aus den Balkanländern. Seit Tagen lernen wir über Völkermord und Verbrechen, über Gerechtigkeit und Frieden. Es sind sehr emotionale Themen, vor allem für diejenigen die Familienmitglieder hier verloren haben und deren Leben es aktiv betrifft. Mich macht es nachdenklich, berührt es, aber emotional? Das war ich bisher nicht.
Heute hat Aida, die Künstlerin der Installation “Što te nema” eine Übung mit uns gemacht, bei der wir Namen von Opfern des Völkermordes nach den Familiennamen aufgeschrieben haben. Danach standen wir alle, ungefähr 50 junge Leute, in einem Kreis und haben erzählt, wie wir uns dabei gefühlt haben. Bei mehreren kamen Tränen. Weil sie den eigenen Familiennamen aufgeschrieben hatten, weil sie nicht einmal Zeit die Mitglieder nur einer Familie aufzuschreiben, … Sobald jemand angefangen zu reden, kamen die Emotionen hoch. Und da habe ich es auch gespürt. Ohne Vorwarnung. Plötzlich waren die Emotionen direkt da, haben sich in Tränen gezeigt. Vorher hatte ich nur mitgefühlt, jetzt habe ich selbst etwas gefühlt. Und mit jeder Person die ihre Gedanken geteilt hat, wurde das stärker. Es tat gut diese Emotionen zeigen zu können, ohne jegliches Urteil, sondern mit Verständnis. Jeder und jede hat andere Emotionen. Ich habe erzählt, dass ich nicht wusste warum ich nichts vorher gefühlt habe, befürchtet habe dass ich zu distanziert bin— bis jetzt. Eine Kollegin spricht danach zu mir, dass es ihr genauso ging. Da waren viele Umarmungen. Hände drücken. Dank an alle, die hierher gekommen sind. Uns wurde nicht gesagt, dass wir irgendwas mit unserem Leben machen sollen— sondern uns wurde Zeit gegeben für unsere Stimmen. Zum ersten Mal habe ich einige meine Kolleg*innen emotional gesehen. Zum ersten Mal habe ich von manchen Teilnehmenden gesehen, was es ihnen etwas bedeutet hier zu sein. Zum ersten Mal habe ich ich mit ihnen allen verbunden gefühlt, teile etwas mit ihnen. Und das ist das wichtigste, was ich mitnehme von diesen Tagen. Von den Vorlesungen kann ich mir die Notizen wieder anschauen. An diese Erfahrung aber werde ich mich direkt erinnern können.
Für mich ist diese Erfahrung heute eine Geschichte von Menschlichkeit weil sie gezeigt hat, was uns alle verbindet. Egal welche Distanz zwischen uns war— weil wir uns nicht gut kannten, unterschiedlichen Alters und Herkunft sind, unterschiedlicher Meinung und Persönlichkeiten— für dem Moment war die Distanz verschwunden, weil die Emotionen so sehr an der Oberfläche waren. Ganz simpel, durch reden und zuhören.
Nicht dass sich Botschafter morgen bei dem Mahnmal zeigen ist das Wichtigste für mich. Sondern Momente wie dieser.
51) Kinder von “Gästen”
Wenn du nirgendwo zu einer Gruppen, einer Familie gehörst, dann gründet ihr eine neue Freundesgruppe oder Familie. Man muss nicht alleine bleiben— und auch nicht nur zu Gast.
“Ich bin dann hier in die zweite Klasse eingeschult worden, zweite oder dritte, ich weiß es nicht mehr, ich glaube eher die zweite. Und dann war wieder diese krasse Veränderung. Da hab ich dann wieder diese Freundlichkeit, diese netten Lehrer, die Kinder die einfach lachen und miteinander reden dürfen, das durftest du dort [in Jugoslawien] nicht. Einfach auf die Toilette gehen, gemeinsam … wir haben in Deutschland in der Schillerschule Brot gebacken. Der Ausländeranteil war dann auch etwas größer bei uns – ich hatte dann türkische Freundinnen, italienische Freundinnen, auch da war ich dann nur mit Gastarbeiterkindern befreundet. Ich war nie mit einem deutschen Kind befreundet.”
Hast du dir das selbst ausgesucht oder ist das automatisch passiert?
“Das war automatisch, weil wir da einfach nicht dazugehört haben. Kleinstadt. Damals hat man uns auch gesagt: ‘ihr Ausländer’. Also, das war damals eigentlich verboten, das zu sagen … und auch die deutschen Kindern haben damals in der Pause aus Spaß gerufen ‘Ausländer raus!’. Und somit haben wir dann immer zusammengehalten, wir Ausländerkinder.
[…]
Ich war nie deutsch. Ich bin auch heute nicht deutsch. Ich bin so ein richtiges Gastarbeiterkind, so ein Ausländerkind. Wir, alle die, die nicht Deutsche sind, aber in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, wir sind komplett eine eigene Kultur geworden. Wir sind weder bosnisch oder türkisch, italienisch, spielt jetzt keine Rolle, noch sind wir Deutsch. Wir passen auch am besten … wir kommen am besten miteinander aus. Deutsch war ich nie. Auch die ersten Jahre bei Tante Vera war ich mir sehr wohl klar, dass ich ‘Jugo’ bin, so hat man das bei uns gesagt. Ich mochte das Deutsche sehr gerne, dieses leichte und fröhliche, dieses Schwarzbrot zum Abendessen, die Rinderrouladen, die Hunde im Haus […] Tante Vera […] war immer fröhlich und lieb und sie hat immer Zeit gehabt zum Spielen mit mir, mit mir spazieren gehen, mir Sachen erklären, Enten füttern – die haben so einen Garten gehabt und so einen kleinen See und da waren wir jedes Wochenende – das war immer so schön, so fröhlich. Aber ich wusste immer, dass das nicht meine richtige Familie ist und dass ich eine Jugo bin. Aber als ich dann nach Jugoslawien kam, dann waren da andere Jugos. Die waren anders. Das war ganz komisch. Ich kann das gar nicht beschreiben.”
50) Mit dem Spielen was da ist
Der Kontext für diese Geschichte ist folgender: als Tochter von jugoslawischen Gastarbeitern wurde dieses Mädchen damals im Sommer vor der Einschulung nach Jugoslawien geschickt. Ohne die Sprache oder das Land zu kennen. Wie das für sie war?
“[…] Ich war natürlich erstmal abgelenkt von den ganzen Tieren, die dort waren – Hunde, Katzen, Kühe, Pferde und Ziegen – und das hat mir alles Spaß gemacht, aber ich hab die Armut schon … die war halt präsent. Meine Oma hatte keinen Kühlschrank, bis dorthin war es für mich etwas ganz selbstverständliches einen Kühlschrank zu haben; sie hatte kein Bad, wenn ich gebadet wurde, dann hat man halt so eine große Plastikwanne rausgetragen und Wasser auf dem Ofen warm gemacht. Ich hab ganz lange Haare gehabt und sie hat nicht mal einen Föhn gehabt, mit dem man die Haare trocken föhnen könnte. Den musste meine Mutter von Deutschland einen mitbringen. Also sie waren sehr arm. Die Toilette war hinter dem Haus, so ein Plumpsklo. Das kannte ich halt in Deutschland alles nicht. Aber es war auch spannend [lacht] es war absolut mega. Wir haben die ganze Nacht durchgespielt, Insekten gefangen, die Glühwürmchen, alte Schuhe im Gülleteich schwimmen lassen, auf dem Pferd geritten, Kuh gemolken, also es war halt echt spannend. Ich bin mit meinen zwei Onkels dort großgeworden, die waren ein bisschen älter als ich und haben ein bisschen aufgepasst. Die Sprache hab ich echt innerhalb von ein paar Wochen gelernt, das ganz schnell. Es ist ja niemand da, du musst ja sprechen lernen.”
Brauchen Geschichten immer eine Moral? Wenn ja, würde ich hier sagen: klar ist das Leben schwierig, doch es kann gleichzeitig schön sein. Es ist nicht egal ob man Geld hat oder nicht, oder das Armut romantisch wäre, man kann Schönheit und Freude auch ohne Geld finden.
49) (Lebens)Langes Lernen
“Neulich hat mir jemand erzählt, nachdem ich ihm gesagt habe dass es ihm Spaß zu machen scheint, neue Dinge zu lernen: ‘Es ist eines der primären Dinge die ich daran mag, am Leben zu sein’. Für mich war das so schön das zu hören, dass ich es gerne als Geschichte teilen wollte.
Ich mag es selber, neue Dinge zu lernen und das gleiche von jemandem anders zu hören, was mich froh gemacht. Es muss nicht das Schulbuch-Lernen sein— kann es aber. Das beste ist wenn ich merke, dass ich etwas gelernt habe. Egal ob ich es zum ersten Mal schaffe, eine Kurve mit dem Snowboard zu fahren, oder in einer anderen Sprache etwas zu bestellen ohne auf das Englische zurückgreifen zu müssen oder indem ich den Matheunterricht aus der Schule mit dem Statistikkurs an der Uni verbinde… die Unterhaltung hat mich an diese Freude erinnert.
Und trotz all der Beschwerden darüber, wie viel wir zu tun haben, in der Schule wie auch in der Universität, ich mochte es immer eine Schülerin/Studentin zu sein. Sich beschweren, wenn etwas nicht ganz nach Plan geht, ist normal, zumindest in meinem sozial-kulturellem Umfeld. Doch eigentlich liebe ich die vielen Dinge die wir dabei lernen.
Vor kurzem hat ein Freund einen Fundraising Aufruf gestartet, da er nicht die Kosten für das erste Semester seines Studiums, etwas wofür er sehr brennt, aufbringen kann. Ich habe etwas zu der Spendensammlung dazugegeben. Er schien überrascht, vielleicht weil wir so lange nicht mehr in Kontakt waren. Doch ich hatte immer das Glück dass ich die Möglichkeiten hatte das zu studieren, wo mein Interesse lag. Und da ich es aufbringen kann, war es schön für mich jemandem dabei helfen zu können das gleiche zu machen, zu lernen. Noch viel mehr, weil er selbst um Hilfe gefragt hat um seinen Traum wahr machen zu können und daher froh darüber war, Unterstützung von Freunden zu bekommen.”
48) Briefe an die Familie
Geschichten dieser Art hört man häufiger, sie sind mir ein Beispiel, wie Familie zusammenhalten. Diese Geschichte wurde wieder von jemandem erzählt, der zuerst als Gastarbeiter nach Deutschland kam.
“Was hab ich mit meinem Geld, das ich in Deutschland verdient hab [gemacht]? Wie gesagt, meine Eltern waren arm und hatten viele Kinder. Und ich hab öfters Mal Geld per Post geschickt. Einen Brief hab ich geschickt und dann 10 Mark, 20 Mark dazugegeben. Das war damals in Jugoslawien viel Geld. Und das kam auch an. Und manchmal hab ich Bekannten was mitgegeben, wenn ich gehört hab, dass er nach Jugoslawien in den Urlaub fährt, hab ich ihn gefragt, ob er 50 Mark oder 100 Mark mitnehmen und meinen Eltern geben kann. Wenn er aus der gleichen Stadt kam. Und so hat der eine für den anderen was gemacht. Und wenn ich selbst gefahren bin, hab ich auch von anderen was mitgenommen. Weißt du, ich bin in einer ganz anderen Kultur und Generation aufgewachsen. Ich stand immer hinter meinen Eltern und Geschwistern, ich hab immer was gegeben und geholfen, damit die Kinder in die Schule können. So war das einfach. Auch als ich verheiratet war, haben wir das so gemacht. Meine Frau für ihre Familie und ich für meine. Aber wir haben es immer gleich gemacht. Gleich viel Geld. Und mit meinen Schwiegereltern bin ich auch super ausgekommen. Man hilft doch, wenn man es sich leisten kann.
47) Study buddies
“Studieren ist ja doch nochmal was ganz anderes als Schule, weshalb ich vor Studienbeginn mir viele Gedanken gemacht habe. Und wenn man sich informiert und umhört, hört man nicht immer nur Gutes. Im Internet hatte ich auf einem Blog gelesen gehabt, dass sich Studenten gegenseitig ausstechen und gegeneinander arbeiten. Hier wurden Bücher in der Bibliothek versteckt, damit Studenten sie nicht finden, oder falsche Lösungen weitergegeben. Das hat mich schon etwas schockiert und nachdenklich gemacht, weil meine Schulzeit geprägt war von gegenseitiger Hilfe. Ich glaube mein Abitur habe ich zu einem Drittel meinen Mitschülern zu verdanken.
Glücklicherweise hat mir die Realität auch wieder etwas anderes gezeigt. Wir müssen in Mathe zum Beispiel jede Woche Aufgaben abgeben, die ganz schön viel Zeit beanspruchen. Aber glücklicherweise machen wir die gefühlt alle zusammen in unserer Studiengangs-Gruppe. Egal bei welcher Frage man Hilfe braucht, irgendjemand weiß die Antwort oder kennt jemanden, der uns weiterhelfen kann, weshalb eigentlich jeder in der Gruppe ziemlich gut abschneidet. Und das vermittelt mir schon ein bisschen das Gefühl wieder in der Schule zu sein. Das miteinander arbeiten und helfen, wenn jemand nicht weiter weiß.”
46) Vorschuss
Diese Erzählung stammt von jemandem, der zuerst als Gastarbeiter nach Deutschland kam.
Manchmal ist ein Vorschuss wichtig, um etwas Neues anzufangen— ob ein Vorschuss an Vertrauen, Geld von der Bank oder in Form eines Kälbchens.
“Ich hab mehrmals probiert nach Deutschland zu kommen. Was heißt mehrmals … zwei Mal hab ich versucht über meinen Onkel nach Deutschland zu kommen. Und mein Vater hat es mir verboten. Er hat zu meinem Onkel gesagt, er soll sich nicht einmischen, er soll die Finger von seinen Kindern lassen. Und dann hat sich mein Onkel bei mir entschuldigt, nachdem ich von der jugoslawischen Bundeswehr zurückgekommen bin … 1969. Und das zweite Mal hab ich es auch über jemanden versucht, den ich kenne. Einen Nachbar. Aber das hat nicht geklappt. Und beim dritten Mal bin ich direkt zum Arbeitsamt gegangen und das hat niemand gewusst. Ich bin ganz alleine hin. Dort habe ich mich gemeldet und hab gefragt, wie hoch die Chancen sind, dass ich nach Deutschland komme. Der Mann hat gesagt, ganz klar, ‘Hey Junge, du bist nicht der Einzige, der nach Deutschland will, es gibt auch Leute, die mit Geld schmieren’. Dann hab ich gefragt, was er meint. Und er so ‘Naja, gib einfach Geld für Kaffee’. Dann hab ich ihm gesagt, dass ich bereit bin, Geld zu geben und er hat mich gefragt wie viel. Und ich hab gefragt, wie viel die anderen denn so geben und er hat gesagt ‘es gibt Leute die geben 500 Dinar, dann gibt es welche die geben 1000 oder 2000 Dinar’. Und dann hab ich gesagt, ‘Ja, wenn das dann klappt, dass ich gehe, dann bin ich selbstverständlich auch bereit 2000 Dinar zu geben’. Aber ich hab ja nirgends gearbeitet und hatte kein Geld. Ich hab einfach gelogen. ‘Ich trag deinen Namen ein und wenn du das Geld bringst, dann können wir das machen’, hat er gesagt. Dann bin ich den ganzen Weg vom Arbeitsamt nach Hause gelaufen und bin zu meiner Tante gegangen. Ich hab ihr gesagt, dass es ein Problem gibt. Ich hab ihr gesagt, dass es eine Möglichkeit gibt nach Deutschland zu kommen, aber dass ich einem Mann 2000 Dinar geben muss. Und dann hat sie ‘Oooh’ gemacht. Sie hat gesagt ‘Ich habe das Geld nicht, die einzige Möglichkeit, die wir haben ist, dass ich mein Kalb verkaufe’. Und ich hab ihr gesagt, dass wenn sie mir hilft und ich nach Deutschland komme, werde ich ihr das nie vergessen. Mein ganzes Leben lang nicht. Und dann haben wir am Montag auf dem Viehmarkt das Kalb verkauft und ich hab das Geld dem Mann gegeben. Und er hat mich auf der Liste gleich ganz oben auf den ersten Platz gesetzt. […] Und dann auf dem Weg nach Hause … zu Fuß waren das 4 Kilometer, weißt du, da hatte ich so Hunger und da dachte ich ‘Ich bin so blöd, warum hab ich mir von dem ganzen Geld nicht erst was zu essen gekauft und ihm den Rest gegeben’ [lacht].”
45) Unter Läufern
“Ich finde es immer wieder beeindruckend, wie sehr sich Sportler gegenseitig helfen, motivieren und unterstützen, obwohl sie sich noch nie vorher begegnet sind. Trotzdem wird sich unterhalten, zusammen gelacht, oder sich gegenseitig mit Verpflegung versorgt.
Wie ich bei einem Rennen, wo ich ein bisschen zu viel gegeben habe und kurz vor dem Ziel einfach nicht mehr konnte und mich an den Rand setzen musste, weil der Körper einfach ‘Nein’ gesagt hat. Ich musste nichtmal groß nachfragen, da hatten mir schon ein junger Mann mit seiner Freundin eine große Flasche Sprite in die Hand gedrückt, die in diesem Moment einfach wie ein Geschenk Gottes war. Es war super freundlich und dank deren Hilfe konnte ich den Wettkampf noch beenden. Leider konnte ich mich im Nachhinein nicht groß bei ihnen bedanken.
Aber das zeigt mir immer, wie entspannt und hilfsbereit man bei sportlichen Veranstaltungen untereinander ist. Vor allem wenn man es mit dem alltäglichen Leben vergleicht, wo sich Leute über die kleinsten Dinge beschweren.”
44) Davon, Menschlichkeit im Zeltlager zu finden
Im Herbst 2015 hat Europa die Ankunft einer Anzahl von Flüchtlingen erlebt, wie es bis dato nicht kannte. Während diese Zeit viele Debatten und Geschichten hervorgebracht hat, inspirierende und verstörende, habe ich sie nicht miterlebt. Ich war zu dieser Zeit nicht in Europa und konnte den Nachrichten und Geschichten lediglich aus der Ferne zuhören. Nach Jahren werden sie immer noch erzählt. Eine möchte ich hier teilen, so wie sie mir erzählt wurde:
Im Sommer 2015 baute eine große Gruppe Flüchtlinge ein Zeltlager im Zentrum von Brüssel, im Maximiliaan Park, auf. Er (der Erzähler) wurde von einem Freund darauf aufmerksam gemacht und begann im Camp zu helfen. Jemand hatte die Idee eine Facebook Gruppe dafür zu organisieren und sofort wuchs die Gruppe. Die Leute gaben Zelte, Essen, Klamotten, Dinge die gebraucht werden könnten. Die Regierung tat nicht viel zu dem Zeitpunkt. Doch die Menschen griffen ein. Da war jemand der für Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) in der Logistik arbeitete. Für ihn war es kein Problem, bessere Zelte zu organisieren. Dadurch bekamen sie größere und stabilere Zelte, in denen man auch stehen konnte, sowie größere Zelte als Büro für die Organisation.
“In nur ein paar Tagen, Menschen kamen aus ganz Brüssel, und sogar ganz Belgien, in das Camp und haben gemeinsam mit den Flüchtlingen das Camp aufgebaut. Wir erarbeiteten einen Plan, ein Man von einem Druckerladen hatte die Möglichkeit Dinge auf Plastik zu drucken— so hatten wir Karten des Camps überall, und Schilder die anzeigen wo Leute hingehen wollten… alle auf Englisch, Arabisch, Französisch und Flämisch. Es war eigentlich ganz professionell organisiert für eine Gruppe von Leuten die das noch nie vorher gemacht haben.”
Mit der Zeit wurde Er gefragt ob er der Sprecher für das Zeltlager sein kann. Das brauchten sie um Unterstützung zu gewinnen, und Flüchtlingen die notwendige Unterkunft und Hilfe und dergleichen geben zu können, während die Regierung ihre Aufgaben nicht schnell genug nachkam.
Der Winter kam und da sie wussten dass es in dem Camp zu kalt werden würde, suchten sie nach anderen Möglichkeiten. Sie kontaktierten Leute in Brüssel und fragten, ob sie Menschen aus dem Camp bei sich aufnehmen würden, freiwillig. Zuerst waren die Familien mit kleinen Kindern an der Reihe. Später, als mehr Menschen ihre Türen öffneten, einzelne Personen, oft junge Männer, wurden auch genommen.
Was dennoch gebraucht wurde war ein gemeinschaftlicher Ort. Die Flüchtlinge kamen aus mehreren Ländern und sie brauchten einen Ort um untereinander zu sein, Erfahrungen und Informationen austauschen zu können.
“Wir fanden, auf der anderen Straßenseite von dem Zeltlager, ein leeres Gebäude das im nächsten Jahr abgerissen werden sollte. Doch es war in einem perfekten Zustand, sie wollten es nur wegmachen und Wohnungen dorthin bauen. Wir haben mit dem Besitzer geredet und er meinte ‘Klar, ihr könnt das benutzen.’ […] und so hatten wir ein ganzes Gebäude für uns, das wir nutzen konnten.”
So hatten sie einen kommunalen Ort, Platz zum Organisieren und treffen und auch um Kisten mit beispielsweise Klamotten zu lagern. Sie hatten das Haus für ein Jahr, was ihnen etwas Zeit zum in die Zukunft denken und planen gab.
Die Geschichte des Zeltlagers geht weiter, doch Er fing an für eine Weile mit MSF zu arbeiten, die Probleme hatten mit der für Europa ungewöhnlichen Situation zu arbeiten. Beim besuchen von Flüchtlingslagern in ganz Europa konnte Er die verschiedenen Szenarien sehen und wie unterschiedlich die Länder mit der Situation und den Menschen umgingen. Es war ein “Augenöffner”, über Regierungen und Menschen. Doch nach der Arbeit mit MSF und der intensiven Zeit mit dem Zeltlager, Er brauchte eine Pause.
Wo genau siehst du die Menschlichkeit in all dem, frage ich.
Na ja, nicht in Regierungen, in Seinem Fall.
“Was die Menschen jedoch angeht, da habe ich das Gefühl das sich so viele ändern können. In Brüssel zum Beispiel: da gab es Leute die in der Nachbarschaft gewohnt haben und nur kamen um zu gucken. Es gibt diese Leute, wenn ein Unfall ist dann kommen sie tatsächlich und schauen nur. Das war das gleiche in Brüssel, die Katastrophen Touristen. Und sie kamen. Doch wegen der freundlichen Atmosphäre gab es keine Anfeindungen oder dergleichen. Klar, ab und zu gab es mal ein kleines Handgemenge, aber generell keine Feindseligkeit. Es gab Menschen die Musik machen, Kinder liefen überall umher, es war eine schöne Atmosphäre. Und die Leute blieben. Und sie fingen an freiwillig mitzuhelfen. Nicht alle, aber es war richtig schön zu sehen. Die Menschen in Brüssel wohnen recht getrennt, in Gruppen, doch hier kamen sie. Sie sahen die Kinder und alles und plötzlich hattest du die Frage ‘Kann ich in der Küche helfen?’— Und ich sage ‘Klar, hier ist die Person die für die Küche verantwortlich ist.’ Es ist ein selbst antreibender Effekt. Das gilt nicht für jeden, doch ich denke das ist wo die Menschlichkeit ist. Weißt du, wie entwaffnend ein Lächeln sein kann?”
[…]
“Ich denke dass man es immer von der positiven Seite sehen muss. Denn wenn nicht bist du irgendwann komplett zerstört. Wenn ich nicht sehen würde wie meine Freunde in Palästina mit der Situation dort und mit der Folter und dergleichen umgehen… Wenn ich nur die Foltergeschichten hören würde, es würde mich zerstören. Doch ich höre auch die andere Seite der Geschichte. Das ist der Widerstand, die Stärke die sie haben, mit der sie weitermachen. Und das ist etwas sehr mächtiges […] Du hörst die Geschichten und erkennst ‘das ist auch ein Teil von Menschlichkeit!’ Du kannst es überall finden.”
Und das ist die Essenz dessen worum es in diesen Geschichten geht. Menschen verursachen eine Menge Zerstörung. Doch da ist auch viel Liebe und Fürsorge, und das sollte man auch zeigen.
“Die Welt ist voller solcher Geschichten.”
43) Ein Weihnachtsticket
“In der Woche vor Weihnachten wollte ich mit dem Bus zu einer Freundin fahren. Ich hatte aber vergessen dass man im Bus nur bar bezahlen kann und hatte nur meine Karte dabei. Ich hatte noch 10 Minuten Zeit bis der Bus losfahren würde und wollte zum nächsten Automaten laufen, doch ein junger Mann fragte hinter mir: ‘Wie viel kostet es denn?’— 4,50 € und gibt ihr einen 5€ Schein. Ist ja Weihnachten.”
Klar wäre es schön, wenn Menschen immer so gütig und einfühlsam wären, nicht nur zu Weihnachten. Doch es macht diese Geste nicht kleiner und vielleicht machen jedes Jahr Menschen zu Weihnachten einen Anfang.
42) Bücher und Hass
Die Geschichte ist etwas anders als sonst. Es ist eine Rede die im Namen einer Gruppe von Leuten geschrieben wurde, in Reaktion zu einigen islamphobischen Vorfällen (unter anderem Koranverbrennungen) im Sommer in Schweden. Sie beschreiben das wogegen angekämpft werden sollte. Dieser Grund gibt ihnen recht klare Worte, darüber dass Hass als Antwort auf Angst keine gute Lösung ist. Diese Botschaft zählt auch an anderen Orten und für andere Arten des Hasses.
“Der Rat zur Verbechensvorbeugung berichtet dass in den letzten Jahren die Berichte von Islamophobischer Hasspropaganda und Hassverbechen in Schweden und überall in Europa stattfinden. Islamophobie zeigt sich auf verschiedene Weise, wie in Propaganda, sozialer und ökonomischer Diskriminierung, Drohungen, Belästigung und Volksverhetzung. In den letzten Jahren gab es auch eine Anzahl von Vandalismus von Moscheen und Koranverbrennungen.
Was beim letzten Mal passiert ist ist mehr als nur eine Einzeltat— mehr als eine Koranverbennung und Attacke auf eine Moschee. Die Vorfälle sind Teil eines umfassenderen Versuchs unsere Gesellschaft zu entzweien und Polarisierung zwischen verschiedenen Gruppen zu schaffen. Der Zweck ist ein ‘Wir und Die Anderen’ zu erschaffen, die nicht zusammenhalten, nicht gleich viel wert sind und die nicht zusammenleben können.
Die Geschichte hat gezeigt wozu solche Polarisierung und Dämonisierung führen kann. Das ist nicht das erste Mal dass in Europa Bücher brennen und wie Heinrich Heine sagte: ‘Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen’. Wir haben das im Zweiten Weltkrieg gesehen als Juden, Roma, Homosexuelle und Andersdenkende in Konzentrationslager im Nationalsozialismus gekommen sind. Und wir wissen wozu die noch andauernde Polarisierung führen kann, wie in China, wo die ethnische Gruppe der Uiguren unterdrückt und in verschiedene Umerziehungs- und Arbeitslager gezwungen wird. Es hat auch zu den Terrorattacken in Norwegen 2011 mit mehr als 70 Opfern, den Terrorattacken in Stockholm 2017 mit fünf Opfern, unter anderem einem elfjährigen Mädchen, und den Terrorattacken in einer Moschee in Christchurch 2019 mit 50 Opfern geführt.
Islamophobie, Afrophobia, Antisemitismus und andere Arten von Hass kreieren eine zersplitterte Gesellschaft , geprägt von Gewalt und Missbrauch. Es ist zu beachten dass Schwedens Probleme nicht mit Islamophobie gelöst werden können. Und Islamophobie kann auch nicht mit Aufständen bewältigt werden. Denn Aufstände zerstören nur unseren Besitz und unsere Gesellschaft. Und es wird nur benutzt um Islamophobie weiter zu verbreiten.
Es wird oft gesagt dass Schweden große Probleme hat mit Kriminalität, Rassismus, Sexismus, Diskriminierung, Absonderung von Gruppen und andere Formen von Extremismus. Ja! Das sind Probleme, die man diskutieren muss! Und es sind Probleme, die man beheben muss! Man kann sie allerdings NICHT mit Hass beheben — ob es nun Islamophobie oder irgendwas anderes ist! Und man kann es absolut nicht mit Gewalt oder Aufständen lösen!
Ein besseres Schweden verlangt dass wir alle uns mit diesen Problemen auseinandersetzen und die sozialen, wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen und intellektuellen Gründe hinter ihnen betrachten. Das braucht eine umfassende Zusammenarbeit zwischen Individuen und Organisationen, darunter Politiker und Zivilgesellschaftliche Akteure, Ökonomen und Gesetzgeber, Akademiker und Journalisten. Dann müssen wir angemessene Schritte finden um Islamophobie und andere hassvolle Ideologien, die unsere Gesellschaft teilen, zu bekämpfen.
Ein besseres Schweden verlangt dass wir von Worten zu Taten, aber auch von Hass zu Solidarität uns wenden und deswegen stehen wir heute hier.”
41) Neuer Ort, neue Gutmenschen
Ein weiterer Umzug. Wieder eine neue Stadt, neue Wege, eine neues Land. Neue Sitten, neuer Alltag, eine neue Routine. Neue Menschen, ein neues soziales Umfeld. Anderes Wetter, anderes Essen. Eine neue Wohnung, an die man sich gewöhnt und einrichtet. In der momentanen Situation außerdem zuallererst: zwei Wochen Quarantäne, zwei Wochen alleine mit den eigenen Gedanken.
Alles selbst ausgesucht und erste-Welt Probleme. Aber beim Ankommen ist dennoch immer ein Stückchen Wehmut und Sehnsucht nach der Heimat und dem Vertrauten dabei.
Und was ist das beste was mir mit solchen Aussichten passieren kann? Wenn eine der neuen Klassenkameradinnen, die einen noch nicht kennt, mit guter Laune, unbeschwert und unkompliziert, auf mich zukommt und mir ihre Hilfe anbietet, bei was auch immer ich eventuell Hilfe brauche. Die mich spät am Abend, ohne dass ich sie darum hätte fragen müssen, vom Bahnhof abholt und zu meinem neuen Zuhause läuft. Nicht nur logistisch, sondern vor allem moralisch war das eine große Hilfe. Und vielleicht der Beginn einer Freundschaft.
40) Wieder auf die Beine helfen
Vor kurzem bin ich bei einem sehr wichtigen Examen durchgefallen. Das hat mich nicht nur sehr überrascht, vielmehr war es auch die letzte, wichtigste Prüfung und hat dementsprechende Konsequenzen für die Pläne die ich für die Zukunft hatte. Ich muss nicht ausmalen wie mies es mir am Anfang ging…
In dem Moment möchte ich alleine sein, aber mich nicht allein gelassen fühlen. Es ist eine Zeit in der ich möchte dass mir jemand hilft, während ich gleichzeitig gut gemeinte Vorschläge stur zurückweise. Ich möchte dass sich die anderen nach mir erkunden, mitfühlen mit mir und meiner Situation, doch ich möchte meine peinliche, erdrückende Lage auch nicht jedem erzählen. Eine Zeit, in der ich meine Familie und ihre Unterstützung brauchte, aber in der ich auch von ihnen genervt war. Als ich wusste dass ich Hilfe brauche, doch zögerte um Hilfe zu fragen. Als meine Gedanken ständig mit Problemen beschäftigt waren und ich wusste, dass ich eine Pause brauche, aber gleichzeitig keine richtige Pause machen konnte weil ich den konstanten Zeitdruck fühlte.
Wahrscheinlich kennen die meisten diese widerstreitenden Gefühle und Gedanken. Ich gebe zu, in einer solchen Situation bin ich nicht die angenehmste Person.
Und dennoch war meine Familie die ganze Zeit für mich da. Sie haben nicht über meine schlechte Laune geschimpft sondern sie still ertragen. Sie haben mich tagsüber in Ruhe gelassen, damit ich an meiner Prüfungswiederholung arbeiten konnte. Sie haben mir Verbesserungsvorschläge gemacht und mich motiviert um Hilfe zu fragen, auch wenn ich es nicht immer von Beginn an hören wollte. Sie haben weiterhin Vorschläge gemacht die in meinen Gedanken haften geblieben sind bis ich sie angenommen habe. Sie haben kein illusionäres, buntes Bild gemalt in der alles von alleine wieder gut wird, sondern Fragen gestellt um mit mir meine realistischen Möglichkeiten zu erörtern.
Und da waren noch meine Freunde die für mich da waren, wenn ich jemand außerhalb des Familienkreises brauchte. Freunde, mit denen ich reden konnte und die Gründe für meine Fehler analysieren konnte. Freunde die mir unglaublich viel mit ihrer Zeit und ihrem Wissen bei meiner Wiederholung geholfen haben. Freunde die für mich da waren um zu reden und zu lachen und etwas gute Gesellschaft zwischen den Stunden von Arbeit und negativen Gedanken zu genießen. Freund, die mein Schicksal teilten und mit denen ich mich am besten über die Situation austauschen konnte.
Auch meine Arbeitskollegen gehören dazu— sie haben großes Verständnis gezeigt und mir die Ruhe gelassen die ich brauchte um neben der Arbeit auch noch mein Pensum für die Uni bewältigen zu können.
Ich kann die Tränen spüren während ich dies niederschreibe, denn ich bin unglaublich dankbar dafür solche Menschen in meinem Leben zu haben, die ich ebenso unterstützen werde wenn sie mich brauchen. Ich hoffe dass sie wissen dass ich sie mehr liebe und brauche als ich das heute mit Worten ausdrücken kann.
39) Engel der Dorfgemeinschaft
Die Erinnerung ist schon Jahre alt. Lange genug hatte ich sie geduldet, diese bei schmuddeligem Herbstwetter allseits zur Genüge bekannten und gefürchteten Tierchen, genannt „Viren“. Wochenlang tummelten sie sich in meinem Körper, trieben ihr Unwesen, ließen die Nase triefen, raubten mir die Stimme. Immer wiederholte sich der gewohnte Ablauf: Fieber – Kopfschmerzen – blockierte Bronchien – Antibiotikum. Er wollte kein Ende nehmen, verlangte dringend nach Abhilfe in Form von Penicilin. Die angsteinflößenden Drohungen auf dem Beipackzettel – in meinem Falle wurden sie Wirklichkeit! Kaum hatte die bittere Pille den Magen erreicht, signalisierten mir die Schleimhäute: „wir reagieren allergisch!“ und schwollen an.
Mit einer Hand klammerte ich mich an den Telefonhörer, die andere hielt die schmerzenden Eingeweide. Aus der Leitung aber sprachen nur monotone Automatenstimmen zu mir, mein Jammern ignorierend. Ich wählte mich durch sämtliche verfügbaren Notrufnummern ohne Erfolg, denn in meinem Bauch tobte inzwischen ein Feuerwerk an Krämpfen. Der treu sorgende Ehemann und mit ihm das Auto waren außer Haus. Besorgte Nachbarn wollten mich gerne fahren – nur … wohin? Die pure Verzweiflung lenkte meinen Blick auf ein Hoffnungslicht im Gemeindeblatt, auf die Nummer der Sozialstation der Diakonie.
Und wirklich, die Stimme am anderen Ende war „live“. Ich spürte sofort, dass sie meinem rettenden Engel gehören musste! Im Sprachgebrauch männlich, hieß mein Engel Schwester „Monika“. Und Ihre Stimme klang, als hätte sie „helfen, Anteil nehmen“ zum Beruf gewählt oder doch wenigstens zum Ehrenamt. Rein zufällig sei sie soeben im Büro eingetroffen, um Schreibarbeiten zu erledigen… Und damit begann meine Glückssträhne im Unglück. „Ja“, sie fahre mich zu ihrem Halbgott in Weiß. Die Götter in Weiß sind nämlich die Chefs der Engel. In diesem speziellen Fall war es der Allgemein-Mediziner der Dorfgemeinschaft.
Wir trafen ihn zu Hause an und baten, angehört zu werden, wohl wissend, dass heute sein freier Tag sei. Sei freundlich lächelndes Gesicht nahm einen wissenden Ausdruck an, und in mir breitete sich beruhigende Sicherheit aus: Es droht keine Gefahr mehr für mein Leben – so hätte es sich mit meinen Worten angehört. Flink war das Mittel gegen all mein Übel auf den Rezeptblock notiert, und dank seines heißen Drahtes zur Apotheke wanderte es rasch in meine Tasche, zu Hause angelangt, in den Mund. Nun wurden die Qualen rasch erträglich und waren am anderen Morgen vollständig verschwunden.
Weiß trägt er schon lange nicht mehr, mein Halbgott und Retter. Er kleidet sich „menschlich“ wie Du und ich, und genau so funktionieren er und seine Praxis. So kannte ich ihn für Jahrzehnte.
von KRina
38) Ein Baum für Freundschaft
“Je länger ich über die Menschen nachdenke, desto dankbarer bin ich für ihre Existenz. Trotz Kriegen zwischen Menschen wegen unterschiedlichen Kulturen, Religionen, Politik oder Glauben im Allgemeinen, Menschen sind soziale Wesen. Als ich in der Grundschule war hat unser Lehrer meine Klassenkameraden und mich gefragt welchen Gegenstand wir mitnehmen würden, wenn wir auf einer Insel gestrandet wären. Die Antworten auf diese Frage reichten von praktischen Gegenständen um in der Wildnis zu überleben wie Essen und Trinken bis hin zu Dingen um sich die Zeit zu vertreiben. Ich dachte vor allem daran alle meine liebsten Tiere mitzunehmen.
Inzwischen umfasst mein Verlangen nach sozialen Kontakten auch die menschliche Spezies und nicht nur Tiere. Während Kriege von Menschen ausgefochten werden und der Klimawandel und Umweltverschmutzung durch und von Menschen möglich gemacht sind, sind sie auch in der Lage Leben zu verbessern und Leiden zu lindern. Je länger ich darüber nachdenke was mir im Leben wichtig ist, desto mehr schätze ich die kleinen, einfachen Dinge im Leben wie Lachen, Reden und Tanzen mit Freunden und Familie. Dies sind Dinge die wir einfach mit unserer eigenen Spezies teilen können und obwohl andere Wesen zu einem glücklichen Leben beitragen können, haben Menschen mein Leben bis zum äußersten bereichert.
Eine spezielle Geschichte kann ich nicht vergessen, eine Geschichte die für mich die Freundlichkeit von Menschlichkeit und Freundschaft hervorhebt. Als ich im vergangenen Jahr für fünf Monate in Kenia gelebt habe, bin ich gleichermaßen mit armen und reichen Leuten im ländlichen Kenia in Kontakt gekommen. Ich habe die große “Lücke” im Leben und Arbeiten dieser “Klassen” von Menschen gesehen, die bis heute in kolonialen Strukturen, eingewebt in das Kenianische System und Politik, existieren. Ich hatte das Glück komplett bei einer kenianischen, lokalen Initiative zu arbeiten, die mit an den Rand der Gesellschaft gedrängte Menschen arbeitet und viele Leute dabei unterstützt in ihrem Verstehen der eigenen Rechte und Werte sowie in praktischer Unterstützung in Gesundheit, finanzieller Bildung und Hilfe. Dort habe ich Pauline getroffen. Pauline ist mir eine liebe Freundin geworden, trotz unserer Unterschiede was Alter, Kultur und Erfahrungen angeht. Sie hat mich ihrer Tanzgruppe vorgestellt, die mich willkommen geheißen hat, und mir den Status einer “Massai” verliehen— einer der ältesten ursprünglichen Volksstämme von Kenia. Das war nicht nur sehr überraschend, vor allem da ich nur sporadisch Kontakt mit den meisten der Mitglieder aus der Tanzgruppe hatte, aber auch eine große Ehre und selten für Ausländer in Kenia. Pauline und der Rest der Frauengruppe jedoch haben mich vom ersten Tag an willkommen geheißen und in ihrer Gemeinde aufgenommen, als wäre ich eine der ihren. Als meine Zeit in Kenia dem Ende zuging, erzählte Pauline mir, dass sie einen Obstbaum am Tag meiner Abreise in meinen Ehren gepflanzt hatte, so dass, wann immer ich zurückkomme, sehen könnte, wie der Baum Früchte trägt. Sie hat diesen speziellen Baum gepflanzt um die Freundschaft, die wir teilen, zu würdigen und nie zu vergessen. Diese einfache und freundliche Geste hat mich tief berührt. Es kam von einer wahren Freundin die mich, trotz aller Unterschiede, als die Person die ich bin, akzeptiert und mich in ihrer Welt willkommen hält.
Wenn ich mir heute vorstelle, dass ich auf einer einsamen Insel gestrandet wäre, nur mit Tieren um mich, weiß ich, dass es mich auf lange Sicht nicht glücklich machen würde. Ich würde die Freundlichkeit und den Austausch vermissen, die durch die sozialen Interaktionen mit der eigenen Spezies zustande kommen. Ich habe gelernt dass menschliche Freundlichkeit sich oft in kleinen Gesten zeigt, manchmal fast unsichtbar ist. Und in manchen Fälle zeigt sie sich als gute Freundin die dir sagt, dass sie einen Obstbaum zu deinen Ehren und in der Hoffnung, in der Zukunft wieder vereint zu sein, gepflanzt hat.“
37) Hundeliebe
Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft muss sich nicht auf Menschen beschränken, wie mir die Erzählung über zwei engagierte “Hundedoktoren” zeigt.
“Nahe dem Ort Hotovo sind wir auf 2 Hundeliebhaber aus der Bundesrepublik gestoßen, die sich zu ihrer Aufgabe gemacht haben, sich um Kranke und Unfallverletzte herrenlose Hunde in Bulgarien zu kümmern. Sie haben ein Hundecamp nahe Hotovo nach Landerwerb aufgebaut und kümmern sich um die hilfsbedürftigen Hunde in Eigeninitiative und über Spenden mit großen Engagement und Fachkunde. Stets sind 15 – 25 Hunde in ihrer Betreuung. Einige davon haben inzwischen wieder oder erstmalig ein neues zu Hause gefunden.”
Nicht nur dass mir wiederholt begeistert von den Hundefreunden und ihrem “Streuner Paradies” erzählt wurde— meine Erzähler hat allein der Gedanke daran zu einer Tat aus Tier- und Menschenliebe motiviert: “Deine heutige Mail hat mich aktiviert, so hast Du damit eine gute Tat in Form einer Spende veranlasst.”
36) Über Lehrer und Lehrerinnen
Diese Geschichte ist an eine ganz besondere Berufsgruppe adressiert: Lehrer:innen.
In der Schulzeit haben wir ständig Witze über sie gemacht, uns auch mal Streiche ausgedacht, und uns darüber unterhalten, wen wir am wenigsten leiden können.
In den Jahren nach der Schule habe ich dann allerdings doch festgestellt wie viel sie mir beigebracht haben. Nicht nur Unnützes, bei dem wir uns immer gefragt haben, wofür wir das jemals brauchen. Nein, ich habe stattdessen bemerkt wie manches, was mir früher unnütz vorkam, nun tatsächlich hilfreich ist. Bestes Beispiel: literarische Stilmittel im Deutschunterricht. Was hilft mir das denn irgendwann nochmal? Doch dann habe ich im Studium eine Rede analysiert und dafür mein Wissen aus Deutsch noch einmal hervorgekramt. Und plötzlich war es wichtig. Nicht nur für diese Rede, aber jede Rede und Text den ich genauer unter die Lupe nehmen wollte. Durch die Stilmittel konnte ich verstehen wie die Autoren ihre Texte und Reden bauen, was sie mit ihnen erreichen wollen, was der Grund hinter ihnen ist. Ich habe nicht nur die Stilmittel auswendig gelernt, sondern hatte damit Hilfsmittel zum Hinterfragen, zum Nachdenken, auf die ich jetzt immer zurückgreifen kann. Denn selbst wenn ich nicht mehr jedes einzelne Stilmittel im Kopf habe, kann ich sie einordnen und wiederfinden.
Dass ich all das in der Schule gelernt habe, diese Schritte habe ich erst Jahre nach meinem Deutsch Abitur verstanden. Nicht nur in Deutsch, sondern in vielen Fächern. Und da diese Erkenntnis vermutlich in der Regel nach einiger Zeit eintrifft, bekommen die Lehrer und Lehrerinnen die Früchte ihrer Arbeit wahrscheinlich selten zu sehen und zu hören. Deswegen hier einmal: Dankeschön.
35) Im Vorbeifahren
Das hier könnte die kürzeste Geschichte hier sein. Sie ist nur wenige Sekunden Alltagsleben lang.
Ich bin den Fahrradweg entlang geradelt und zwei Personen kamen aus der Gegenrichtung. Der erste, auf einem E-Roller, fuhr so weit auf meiner Seite des Weges dass ich auf den Fußgängerweg ausweichen musste um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Ich war kurz davor genervt mit den Augen zu rollen, als er mir eine Entschuldung zurief. Und ich konnte nicht anders als zu lächeln.
34) Reisepass gesucht
„Ich bin gerade in Nepal und wir waren in den letzten Wochen wandern im Himalaya. Immer schön von Hütte zu Hütte um den Annapurna herum, der Zehnthöchste Berg der Welt. Nun hat ein Freund von mir am dritten Tag seinen Beutel, mit ‘nem Haufen Geld, Reisepass und Kreditkarte verloren, da seine Tasche, wo alles darin war, kaputt gegangen ist. Als wir das gemerkt haben ist er natürlich sofort umgedreht, war bei der Polizei und hat die Strecke abgesucht. Wir haben in der nächsten Ortschaft gewartet und uns schonmal Gedanken gemacht wie es jetzt weitergeht und was wir als Gruppe machen. Wir haben schon gedacht dass wir alles abbrechen müssen. Aber als wir am nächsten Tag zu einer Akklimatisierungswanderung starten wollten hielten uns kurz zwei deutsche Mädels und ein Franzose an und fragten nach ob wir die Truppe sind, die den Beutel mit all dem Zeug suchen. Wir hatten so viele Leute gefragt und kennengelernt, dass wir nun als die Gruppe, die nach dem Reisepass sucht, bekannt waren. Diese drei hatten glücklicherweise den Beutel gefunden und ihn mitgenommen. Sie haben sich sogar geweigert den Beutel abzugeben, da dann wahrscheinlich das ganze Geld weg gewesen wäre. Soll wohl schon häufiger vorgekommen sein. Und da das Geld für drei Wochen gewesen wäre, waren wir einfach heilfroh, dass noch alles da war. So konnten wir nach zwei Tagen des Suchens und Überlegens doch noch unseren Treck weitergehen.“
33) X & Y, Verrat und Vertrauen
In den vergangenen Monaten habe ich an einer Schulung teilgenommen, in der es um peace-building (Friedenskonsolidierung), Transformation von Konflikten und Versöhnung zwischen Menschen ging. Wir waren eine Gruppe von rund 20 jungen Menschen aus verschiedenen Ländern in Europa und der Kaukasus Region. Es gibt einem Hoffnung, denn die ganze Woche drehte sich eigentlich nur darum unseren Gesellschaften zu helfen. Doch ohne Dinge zu romantisieren möchte ich eine Geschichte aus dieser Woche erzählen die wieder zeigt: kleine Dinge sind wichtig.
Wir haben das X-Y Spiel gespielt. Darin treten mehrere Gruppen gegeneinander an und versuchen so viele Punkte wie möglich zu gewinnen. In mehreren Runden wird in den Gruppen im geheimen für X oder Y gestimmt. Wenn eine Gruppe nur an sich denkt wird sie X wählen. Wenn man sich jedoch nicht um den Gruppengewinn schert, sondern anfängt an alle Gruppen zu denken und sich um sie zu kümmern, dann wählt man Y. Wenn jede Gruppe für Y stimmt kann jeder glücklich werden, aber wenn die anderen (oder auch nur eine andere Gruppe) X wählt, verliert die Y Gruppe. Essentiell geht es in dem Spiel also um Vertrauen, Hoffnung und kämpfen für die Gesellschaft anstatt von Selbstsucht.
Was in unserer Gruppe passierte war dass wir angefangen haben für Y zu stimmen. In jeder Runde. Wir haben in fast jeder Runde verloren, sind aber bei dem Y geblieben. Ein Pakt zwischen den Gruppen wurde beschlossen und von einer Gruppe gebrochen. Wir blieben bei dem Y. “Wenn wir jetzt auch für X stimmen sind wir nicht besser, sondern denken auch nur an uns selbst und nichts kann sich ändern”, haben wir uns gesagt. Am Ende hatten wir die meisten Minuspunkte von allen Gruppen.
Was ist die gute Nachricht dabei? Zeigt es nicht das Teilen und Menschlichkeit sich nicht auszahlt? Nein, denn das Spiel geht jedes Mal anders aus. Und in der Reflektionsrunde danach kam das Beste. Wir hatten einen Beobachter für Gruppe, der das Spiel vorher schon einmal gespielt hatte. Und ihn hat es verändert, dass er uns beobachtet hat.
Er meinte, das letzte Mal hätte die Gruppe nur an sich selbst gedacht, ganz anders als wir. Als er sah, wie wir immer für die größere Gruppe gestimmt haben, hat ihn das überrascht. Er, ein recht ruhiger Mensch, sagte dass durch das Zusehen wieder etwas Vertrauen und eine positive Seit ein Menschen gesehen hat. Und Hoffnung. Er sagte das am Ende der Schulung noch einmal, als eines der wichtigsten Dinge die er mitnahm: Vertrauen.
Ich hätte nicht gedacht dass es einen solchen Eindruck machen könnte, dass es die Einstellung einer Person so sehr beeinflussen könnte. Das war schön zu hören. Er hat es nicht nur gedacht, es war ihm auch wichtig genug um die Veränderung mit uns zu teilen.
Eine Person ist wichtig, jede Sache die wir tun ist wichtig, auch wenn es nur ein Spiel ist. Und somit ist auch jede Sache die wir ändern wichtig.
32) „Alle Zusammen“
Anfang Februar haben die Folgen der Landtagswahl in Thüringen mächtige Wellen geschlagen, als ein neuer Ministerpräsident gewählt wurde. Entrüstung, Emotionen, politisches Interesse… auf einmal schien die ganze Zivilbevölkerung auf den Beinen. Diese Geschichte handelt nicht davon, welche Partei man gewählt hat- sondern darum, dass Menschen aufgestanden sind für die Demokratie, dass sie es nicht hingenommen oder weggeschaut haben als sie verletzt wurde. Denn das hat wieder Hoffnung gegeben, wie eine Freundin gezeigt hat:
“Die letzten Tage haben mich mit tiefer Furcht und Ungläubigkeit erfüllt. Darüber, wie geschichtsvergessen und egoistisch Menschen in mächtigen Positionen doch sein können. Und was sie in Kauf nehmen nur um ihren Bestrebungen zu folgen.
Am 5. Februar waren meine Mitbewohnerin und ich damit beschäftigt uns vom Schreiben unserer jeweiligen Bachelorarbeit abzulenken, als wir die Nachricht über die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen mitbekamen. Die FDP stellt plötzlich den neuen Ministerpräsidenten? Wirklich? Nicht nur, dass man mit 5% Wahlstimmenanteil echt nicht den Mehrheitswillen der Bevölkerung abbildet, nee, er hatte sich auch noch von den Faschisten der AFD um Höcke ins Amt heben lassen (Hierbei sei angemerkt, dass es rechtlich legitim ist Höcke als Faschist zu bezeichnen, dazu gabs ‘nen Gerichtsurteil). Wir waren fassungslos.
Der erste Schreck ebbte ab und wir begannen zu recherchieren, um den genauen Ablauf in Erfahrung zu bringen. Irgendwas musste man da doch machen können. Schnell stellten wir fest, dass wir nicht allein waren mit unserer Entrüstung, überall riefen Menschen zu Demonstrationen und Solidarisierungen mit den Demos auf. Die Forderung nach dem sofortigen Rücktritt verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Menschen.
Keine Stunde nach der öffentlichen Verkündung des Wahlergebnisses gab es eine Demonstration am Landtag in Erfurt, sowie in Jena, Weimar und Gera, noch am selben Tag kamen Menschen in Leipzig, Berlin, Hamburg und an anderen Orten in ganz Deutschland zusammen. Dieses Gefühl der Solidarität und des Zusammenhaltes bestärkte mich und gab mir Zuversicht.
In den folgenden Tagen verfolgte ich gebannt die neusten Ereignisse. Am 8. Februar konnte ich endlich aufatmen. Der Ministerpräsident war zurückgetreten, es würde sich etwas ändern!
Ich bin allen dankbar, die widersprochen haben, die auf die Straße gegangen sind, die sich solidarisiert haben und gezeigt haben, was Demokratie ist und was Menschlichkeit bedeutet.”
31) Gehen lassen
Manchmal erscheint es mir menschlich genug wenn Menschen sich ganz normal verhalten. Im Sinne davon, wenn sie nichts schlimmes machen. Das empfinde ich auch als etwas positives.
Aufgefallen ist das unterwegs in Georgien. Drei Stunden sich die manchmal auch anstrengende Fragen des Sitznachbarn im Flugzeug anzuhören wurde damit belohnen, dass wir eine Mitfahrgelegenheit vom Flughafen in die Stadt angeboten bekommen hatten. Nachdem wir abgeschätzt hatten, ob wir auf die Ehrlichkeit der beiden jungen Männer vertrauen sollten, wurden wir eine halbe Stunde lang in die nächste Stadt und zu unserer Unterkunft gefahren. Das lag nicht einmal auf dem Weg unserer beiden Fahrer, dennoch haben sie sich freudig in den Straßen Georgiens zu unserer Adresse durchgefragt und uns sicher dort abgeliefert. Das für sich war schon sehr nett. Besonders erfreut hat uns jedoch, dass wirklich keine Gegenleistung verlangt wurde (wie es sonst häufig der Fall ist). Auch kein Fragen nach der Handynummer, Kontakt in Zukunft oder irgendeine andere Art von Aufdringlichkeit.
Vielleicht ist es auch schade, dass das etwas Besonders ist, aber es war dennoch ein positives Beispiel.
30) Die Reise eines Portemonnaies
“Jetzt hab ich auch eine Geschichte 🙈
Ich und ein Freund sind gerade in Südostasien unterwegs und trampen zur Zeit durch Vietnam. Gestern haben wir ein Portemonnaie mit Führerschein und Kreditkarte im Auto einer Mitfahrgelegenheit vergessen. Uns ist dies erst 100km später aufgefallen, als wir schon bei der nächsten Mitfahrgelegenheit unterwegs waren. Wir wussten gar nichts, keinen Namen, Kennzeichen oder wohin das Auto gefahren ist. Also sind wir die 100km zurück getrampt und haben die Leute in der Stadt, wo wir ausgestiegen sind, gefragt ob sie den Mann irgendwie kennen oder uns weiterhelfen können. Sie haben unser Problem auf Facebook geteilt und so hatte sich die Nachricht sehr schnell verbreitet, dass zwei Ausländer aus Deutschland ein Portemonnaie verloren haben. Im gleichen Moment hatte unsere Mitfahrgelegenheit das Portemonnaie gefunden und hat ebenfalls gepostet, dass er das Portemonnaie von zwei Ausländern hat. Nachdem wir zweimal zum Essen eingeladen wurden haben wir schließlich über fünf Ecken und mit ganz viel Hilfe und freundlichen Einheimischen endlich unser Portemonnaie wiederbekommen, das uns ein Busfahrer gebracht hat.
Ich hoffe es kommt irgendwie verständlich rüber 🙈😂 Es war sehr verwirrend und ganz genau wissen wir auch nicht, wie das Portemonnaie wieder zu uns gefunden hat 🙈”
Das ist eine Geschichte in der Menschen sich besser verhalten als ich es erwarten würde- es ist wunderschön zu hören. Kommunikation ist alles.
29) Beeindruckend?
Diese Geschichten regen zum Nachdenken an- wo fängt Menschlichkeit an?
“Die eine Geschichte hat mich auf die Idee gebracht, dir eine Begebenheit zu schildern, die eine gewisse Parallele aufweist. Ich laufe dabei allerdings Gefahr, den unangenehmen Geruch des Eigenlobs zu verströmen. Tatsächlich geht es mir aber um die Frage: Weshalb tut ein Mensch Gutes?
“Mein in Tannenberg im Erzgebirge lebender Onkel Karl hatte den Ersten Weltkrieg heil überstanden, seine drei Söhne den Zweiten Weltkrieg jedoch nicht. Einer starb in Frankreich, der andere in der Ukraine, der dritte verhungerte in sowjetischer Gefangenschaft.
Jahrzehnte später war ich in Tannenberg zu Besuch. Onkel Karl, der inzwischen über achtzig Jahre alt und verwitwet war, zeigte mir ein Schreiben des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass die Gebeine seines in Le Havre gefallenen Sohnes auf einen zentralen deutschen Soldatenfriedhof hundertfünfzig Kilometer westlich von Paris umgebettet worden waren. Ich sagte: ‘Onkel Karl, da fahren wir hin’. Als Rentner durfte er uns in Stuttgart besuchen [die Erzählung handelt von vor der Wende, als dies nicht selbstverständlich war], und so unternahmen wir zu zweit eine große Frankreichtour. Wir übernachteten in der Nähe von Sacré-Cœur, besuchten den Eiffelturm und andere Sehenswürdigkeiten und fanden nach unserer Weiterreise die Grabstelle meines Cousins auf dem riesigen Feld. Irgendwie hatten wir das Bedürfnis, auch Le Havre kennenzulernen. Dort gerieten wir in Strandnähe in eine volksfestartige Veranstaltung. Man feierte den Jahrestag der Landung in der Normandie.
Auf dem Heimweg machten wir noch einmal Halt in Paris. In einer Kneipe erlebten wir, dass zwei Kellner einem ärmlich wirkenden Gast das Jackett auszogen und einbehalten wollten, weil der nicht bezahlen konnte. Spontan mischte ich mich ein, fragte, um wie viel es ginge, und bezahlte den Betrag. Später habe ich mich gefragt, ob ich das nur tat, um meinem Onkel Karl zu imponieren. Zunächst verneinte ich es. Als ehemaliger Hitlerjunge bin ich in jungen Jahren immer schuldbewusst ins Ausland gereist und hätte als patriotisch denkender Mensch wohl gern die Gelegenheit genutzt, uns Deutsche in etwas positiverem Licht erscheinen zu lassen. Aber hätte ich, allein in einer deutschen Gaststätte sitzend, ebenso gehandelt? Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.”
28) Bringt es jetzt noch etwas?
Zuzugeben dass man falsch lag oder sich zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht richtig verhalten hat ist nicht einfach. Sich selbst und den eigenen Stolz zu überwinden, einen Fehler sich selbst und anderen gegenüber zuzugeben. Nicht jeder macht das. Und nicht in jeder Situation.
Ich glaube an diese Sprüche wie “besser spät als nie” und “es ist nie zu spät so zu sein, wie du gerne gewesen wärst” (auch wenn ich mich gerade nicht erinnere, wer das gesagt hat). Es kann sein dass es eine ganze Weile dauert, aber es ist es trotzdem wert gesagt zu werden, wenn einem klar wird, dass man einen Fehler gemacht hat.
Ohne groß ins Detail zu gehen, vor kurzem habe ich die Erfahrung gemacht wie jemand mir nach Monaten mitgeteilt hat, dass er unglücklich mit dem eigenen Verhalten ist und es gerne erklären würde. Es klang wie eine Entschuldigung. Das schätze ich.
27) Übergabe von Hamburg nach Hannover
Heute habe ich eine durchaus ungewöhnliche Übergabe miterlebt— nicht mit der Post, sondern mit der Deutschen Bahn.
Während des Einsteigens von Passagieren in den Zug in Hamburg hat ein Mann ganz aufgelöst versucht eine Bekannte am Telefon zu erreichen. Diese arbeitete an einem Filmprojekt und hatte das Ladegerät der Kamera anscheinend vergessen- jedenfalls war es in der Hand des besagten Mannes in Hamburg und sie war in Hannover. Jetzt hatte er laut überlegt, das Ladekabel in den Eingang des Waggons zu legen, damit seine Bekannte es sich in Hannover am Gleis kurz aus dem Zug holen kann. Da kamen ihm zwei junge Menschen zu Hilfe. Die Frau, deren Freund ihr mit dem Gepäck in den Zug geholfen hatte, bot an das Kabel zu nehmen und in Hannover der Bekannten zu geben, wenn sie rechtzeitig am richtigen Gleis wäre. In kürzester Zeit entschied sich der Mann für das Angebot, in letzter Minute trafen sie eine Abmachung. Die Wagennummer wurde noch schnell aufgeschrieben, Telefonnummern ausgetauscht. Der Zug war voll, kurz davor abzufahren.
In Hannover stand die Helferin dann bereit und stieg kurz aus dem Zug, das Ladegerät in die Höhe haltend während neue Passagiere zum Eingang strömten. Sofort fand sich die dankbare Abnehmerin. Ein herzliches “Danke”, ein “Gern geschehen”, und dann stieg die Reisende wieder zurück in den Zug. Und weiter ging die Fahrt.
Ein Vertrauensvorschuss kann sich auszahlen. Gute Taten müssen gar nicht viel kosten, oder anstrengend und kompliziert sein. Aber sie können viel ausmachen.
26) Gute Absichten
„Aus persönlichem Erleben kann ich etwas berichten, das zwar nicht als menschliche Tat, aber doch als menschliche Haltung gewertet werden kann und meine Mutter betrifft, die leider nur 45 Jahre alt geworden ist. Du hast sicher vom missglückten Attentat auf Adolf Hitler gehört, das, wäre es gelungen, höchstwahrscheinlich Millionen Menschen das Leben gerettet hätte. Es ist bekannt, dass vom 20. Juli 1944 bis zum 8. Mai 1945 mehr Menschen ihr Leben verloren haben als in all den Kriegsjahren davor. Der Gang der Weltgeschichte hängt oft von banalsten Zufälligkeiten ab, das zeigt sich immer wieder.
Meine Großeltern und die Verwandten mütterlicherseits wohnten im oberen Erzgebirge zwischen Annaberg-Buchholz und Geyer. Obwohl die Entfernung per Straße von meinem Geburtsort Eppendorf aus kaum mehr als 40 km beträgt, mussten wir, um dorthin zu kommen, mit zwei Schmalspurbahnen und zwei Normalspurbahnen fahren. Das war für mich als Kind jedes Mal eine aufregende Sache und mit viel Vorfreude verbunden. Nach dem Attentat auf Hitler wurde ein Carl Friedrich Goerdeler steckbrieflich gesucht. Der war einmal Oberbürgermeister von Leipzig gewesen und nach geglücktem Attentat als provisorisches Staatsoberhaupt vorgesehen. Auf ihn war eine Million Reichsmark als Belohnung für Hinweise ausgesetzt, die zu seiner Festnahme führten.
Die Million hätte mich als Zwölfjährigen schon gereizt, aber meine Mutter sagte mir vor Antritt unserer Reise ins Erzgebirge, dass sie ihn, sollte er in unserem Abteil sitzen, niemals verraten würde. Eine Begründung hat sie mir nicht gegeben, denn es war in der damaligen Zeit für Eltern äußerst gefährlich, sich gegenüber Kindern politisch zu äußern. Die verplapperten sich leicht gegenüber Lehrern oder HJ-Führern oder wurden durch Suggestivfragen dazu gebracht, sich über Erwachsene zu äußern.”
Auch wenn besagter Goerdeler letzten Endes gefasst und hingerichtet wurde ist es dennoch schön zu wissen, dass es Menschen gab die jemanden wie ihn geschützt hätten.
25) In der Warteschlange helfen
Vor einer Weile bekam ich diese Nachricht:
“Dein Beitrag von dieser Woche erinnert mich an eine Situation beim Metzger:
Eine lange Menschenschlange an der Heißtheke wartet auf ihr Mittagessen. Daneben schaut sich eine zierliche, ausländisch aussehende Frau, umzappelt von einem kleinen Jungen, die Speisen an. Man sieht ihr an, dass sie im Kopf nachrechnet. Auch ihre Kleidung spricht nicht von Reichtum. Das dauert eine ganze Weile. Als sie der Verkäuferin ihre Bestellung aufgibt, fängt diese an, die verschiedenen Fleischküchle abzuwiegen – und schüttelt ein ums andere Mal den Kopf, alle zu schwer für das bereit gelegte Geld. Trotzdem reicht sie eines über den Tresen. Die Frage aber nach einem Brötchen verneint die Verkäuferin: „Ich habe eh schon zu viel Fleisch gegeben”…
Ein Mann in der wartenden Schlange ruft spontan von hinten: „Nun geben sie ihr das Brötchen, ich werde es bezahlen!“ – Er war schneller als ich, denn genau das hatte ich auch vor…“
Und so verbreiten sich die Geschichten und lassen uns weitere positive Dinge wahrnehmen. Wie schön mit anzusehen!
24) Ein großer Parkplatz
Es ist immer schön von positiven Ereignissen und Begebenheiten zu hören. Und ich freue mich dass sie nun so häufig an mich weitergetragen werden, wie vorige Woche:
„Ach, du brauchst doch immer Geschichten:
Vorgestern Abend, es war schon dunkel, war ich auf dem Weg nach Hause, da sprach mich eine Frau an ob ich mich in Erfurt auskenne. Na klar kenne ich Erfurt!
Sie hatte ihr Auto auf einen großen? (was ist groß?) Parkplatz gestellt und findet diesen Parkplatz jetzt nicht wieder. Ich bin doch heute allein, habe Zeit und so habe ich mich mit ihr auf den Weg gemacht um das Auto wieder zu finden. Wenn man weiß, wo in der Innenstadt Parkplätze sind dann findet man nach einiger Zeit auch den richtigen.
Ach, was hat die sich gefreut!“
23) Getauft mit Nächstenliebe
Der pensionierte Abt eines regionalen, noch aktiven Klosters genoss seinen wohlverdienten Urlaub auf einer sonnigen Parkbank. Eine ältere Dame gesellte sich zu ihm, die einen gepflegten Eindruck auf ihn machte. Nach einiger Zeit fragte er die Dame, ob sie gottgläubig sei. Verwundert wollte sie den Grund der Frage wissen. Lächeln antwortete der Abt: „man müsse eine sehr gute Beziehung zum Herrgott haben, um mit so viel Schönheit ausgestattet zu werden.“ Das Gespräch nahm seinen Lauf und der Abt erzählte von seinem Kloster und den Bemühungen die es gekostet hatte, es in einen sehenswerten Zustand zu versetzen. Selbst der Taufstein der Kirche wurde erneuert. Nun fehle nur noch eine spezielle steinerne Figur zur Komplettierung des Taufsteins. Lächelnd erwähnte die interessierte Zuhörerin, dass sie möglicherweise helfen könne, da sie in dieser Richtung künstlerisch tätig sei. Das sei sicher kaum möglich, erwiderte der Abt, denn die finanziellen Möglichkeiten seines Klosters würden maximal für die Hälfte des zu erwartenden Preises für das Kunstwerk reichen. Damit wollte der unaufdringliche Geistliche das Thema beenden. Nicht aber die ältere Dame. Sie hatte Gefallen an dem Gespräch gefunden und ihr Herz öffnete sich spontan. Sie einigten sich auf einen Freundschaftspreis und der Auftrag wurde „bankkonform“ auf einer Parkbank vereinbart.
Inzwischen ist das Werk vollendet und ziert den Taufstein mit den Worten: „EIN AKT VON NÄCHSTENLIEBE“
22) Wiener Straßentanz
Es ist Mitte Herbst, abends um sieben ist es bereits dunkel und Wien wird nur von hellen Laternen erleuchtet. Tausende von ihnen, genauso wie die Menschen die auch unter der Woche durch die Innenstadt der Großstadt ziehen. Wir fahren ein paar Stationen mit der U-Bahn, dann steigen wir an unserer Haltestelle aus, stellen uns auf die Rolltreppe, fahren ein Stockwerk höher. Dort sehen wir schon die Treppe zum Ausgang der Station. Und wir sehen eine ältere Dame beim Tanzen.
Der Ausgangsbereich der U-Bahn Station ist als Platz für Straßenmusiker reserviert. Heute Abend hat ihn ein Rapper eingenommen. Größere Aufmerksamkeit als er selbst bekommt jedoch eine Frau älteren Jahrganges in einer leuchtend rosa Jacke, die sich vorsichtig aber mit viel Enthusiasmus zu der Musik bewegt. Während viele andere vorbeilaufen, vielleicht einmal kurz lächeln, genießt sie die Musik und tanzt. Für sich selbst, und mit anderen. Sie hebt ihren Gehstock und wippt im Takt des Gesangs, sie nähert sich einer Gruppe junger Leute die sich über sie freuen und fordert sie tanzend auf, es ihr gleichzutun.
Wann erreicht man dem Punkt in seinem Leben, in dem man sich nicht um das schert was andere denken, sondern einfach man selbst ist? Die Frau hat an dem Abend sicher viele Menschen zum Lächeln gebracht.
21) Mein Englischlehrer
Dies ist eine historischere Geschichte aus den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg- ein Bekannter hat sie mir beschrieben und ich werde versuchen sie kurz wiederzugeben:
Sie handelt von einer besonderen Art von Nachbarschaftshilfe. Beziehungsweise versuchter Nachbarschaftshilfe.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Russischen Besatzungszone in Deutschland sehr radikal gegen NSDAP Parteimitglieder vorgegangen. Auch Beamte, die im Dritten Reich in die Partei eingetreten waren um arbeiten zu dürfen, verloren nun ihre Stellen, wurden für schwere Arbeiten zwangsverpflichtet oder sogar verhaftet. Aus dieser Zeit stammen viele Geschichten von Spionage und Verrat, auch unter Familien, Freunden, Bekannten und Nachbarn. Doch es gibt auch Beispiele unerwarteter Hilfe und davon handelt diese Geschichte.
H. war Englischlehrer an der örtlichen Hauptschule gewesen, er zählte zu den Lehrern, die nur der NSDAP beigetreten waren, um ihren Beruf ausüben zu dürfen. Deswegen wurde er später zu Zwangsarbeit im Kohleabbau verpflichtet. Er galt, auch in den späteren Jahren, als verschlossen, kauzig und menschenscheu, nicht als die Art Mensch der man eine mutige, selbstlose Tat zutrauen würde. Und dennoch brachte er sich für seinen Nachbarn in Gefahr. Ohne dass ein besonders vertrautes oder freundliches Verhältnis zwischen den beiden bestanden hätte, es war nicht mehr als korrekt, aber kühl. Und dennoch versuchte er zu helfen.
Sein Nachbar W. wurde verhaftet, aufgrund seiner NSDAP Mitgliedschaft die er als Standesbeamter haben musste. Dieser war selbst als ein Mensch bekannt, der keinem anderen etwas zuleide tun könnte.
Erst nach H.’s Tod wurde aus seinem Nachlass bekannt, dass er sich gleich zweimal in Briefen für die Freiheit seinen Nachbarn W. eingesetzt hatte- ohne es bekannt zu machen, ohne in einem freundschaftlichen Verhältnis mit diesem zu stehen. Vehement und mit ausführlicher Begründung hatte er für W.’s Freilassung argumentiert. Und obgleich er keinen Erfolg hatte, ist allein der Versuch in der damaligen Situation keine Selbstverständlichkeit gewesen. Sondern eine unerwartet uneigennützige Tat für einen Bekannten.
Spätere Generationen können sich kaum vorstellen, unter welchem Druck die Menschen gerade in Kriegsjahren und in den darauffolgenden Jahren standen. Wer es trotz schärfster Strafandrohung trotzdem gewagt hat, anderen Menschen zu verteidigen oder zu helfen, ist daher jemand Besonderes.
20) Zivilcourage
In dieser Geschichte geht es vor allem um Zivilcourage wie sie im Buche steht.
Erst vor kurzem habe ich in den Nachrichten wieder davon gelesen, dass zunehmend das Filmen von Unfällen anstatt zu helfen ein Problem ist. Wenige Tage später habe ich jedoch miterleben dürfen, dass es auch anders aussehen kann.
Wir waren zu dritt mit dem Fahrrad auf einer mehrtägigen Tour unterwegs. Am Morgen des zweites Tages regnete es in Strömen, kurz nach neun wurde die Sintflut jedoch weniger. Nachdem der Regen gestoppt hatte brachen wir direkt auf. Doch durch ein Zusammenspiel mehrerer unglücklicher Umstände kamen wir nicht einmal bis zum Ausgang des Dorfes. Die noch nasse Straße, die steile Abfahrt, die scharfe Kurve, das einseitig beladene Fahrrad ohne Mountainbikereifen- es war wie in einem Film in Slow Motion anzusehen wie das Rad wegrutschte und meine Freundin auf der Straße landete. Und wenn von drei Leuten zwei einen Helm tragen, trifft es bestimmt die Person ohne Helm. Nicht in der Lage den Schwung komplett auszugleichen schlug sie mit dem Hinterkopf einmal kurz auf der Straße auf.
Das ist der erste Moment in dem man noch hofft, dass es gar nicht so schlimm war- bis man das Blut sieht und nur weiß, dass man schnell helfen muss. Sofort waren wir anderen beiden bei ihr- einer rief den Krankenwagen, der andere half unserer Freundin. Sie stützend und die Hände ganz rot, versuchte ich die Blutung zu stillen, wusste dann aber auch für ein paar Sekunden nicht weiter. In den ersten Momenten reagiert man automatisch, bis man weiß dass die Lage nicht lebensbedrohlich ist und Hilfe kommen wird. Es hieß auf den Notarzt warten, aber für ein paar Sekunden wusste ich nicht wie ich bis dahin am besten handeln sollte.
Und dabei kam uns die Dorfgemeinschaft und vorbeifahrende Mitmenschen zur Hilfe. Eine Autofahrerin hielt an und fragte ob wir den Erste-Hilfe Kasten aus dem Auto gebrauchen könnten. Eine hervorragende Idee! Zusammen mit einer weiteren Autofahrerin, die anhielt, half sie mir die Platzwunde zu verbinden. Andere boten Wasser oder Taschentücher an. Mehrere fragten ob wir noch Hilfe benötigten, ließen uns dann aber auch in Ruhe wenn wir erklärten dass jetzt alles unter Kontrolle sei. Niemand stand nur rum und sah zu, aber sie blieben auch ruhig und waren nicht zu viele. Ein Dorfbewohner brachte das Fahrrad, das wir nicht transportieren konnten, in die nächste Stadt zu dem behandelnden Krankenhaus.
Wir waren keine Sekunde ohne Unterstützung. Und das erfüllte mich mit Dankbarkeit und ich war froh es beobachten zu können: wie ohne zu zögern uns Fremde zur Hilfe geeilt sind. Selbstverständlich sollte man meinen, aber laut den Nachrichten wohl nicht für jeden. Wir haben das positive Beispiel in einem Moment von Unglück erlebt.
19) Der unsichtbare Bahnhofsheld
Eine weitere Bahnhofsgeschichte ist mir eingefallen, in der ich vor ein paar Jahren jemandem für seine Hilfe zu großem Dankbarkeit verpflichtet war.
Abermals nicht unbedingt eine meiner schlauesten Aktionen. Über Nacht bin ich mit dem Zug vom Arbeiten nach Hause gefahren. Dabei hatte ich zwischen 1 und 4 Uhr morgens einen Zwischenstopp in Schweinfurt. Ich hatte erwartet, dass dies eine größere Stadt (zumindest größer als sie sich dann herausgestellt hat) ist und der Bahnhof über Nacht nicht schließt. Doch genau das war der Fall. Es war Anfang März, zwar nicht mehr unter Null Grad nachts, aber dennoch sehr frisch. Die erste Stunde konnte ich tatsächlich auf einer Bank ruhen, danach aber wurde das dann doch sehr unangenehm. Das ist wieder so eine Geschichte bei der ich vielleicht voranstellen sollte: ich empfehle keinem, eine Nacht alleine auf einem Bahnhof zu verbringen! Das ist aber nicht der eigentliche Text, nur ein Hinweis auf meine Unbedachtheit (bzw. nicht durchdenken meines Plans). Meine Rettung für eine erträgliche Nacht kam in Gestalt eines Bahnhofsmitarbeiters, der mitten in der Nacht zum Saubermachen kam. Er fragte mich was ich am Bahnhof machte und wie lange ich zu warten hatte. Dann fragte er, ob ich in das Bahnhofsgebäude kommen wollte. Er schloss es auf und ich setze mich in das Foyer. Und auch als er fertig war mit Saubermachen und wieder ging, bot er mir an dort zu bleiben, bis mein Zug kommen würde. So konnte ich, auf dem Boden neben der Heizung, sogar ein klein wenig schlafen.
Wenn ich daran zurück denke bin ich dem Mann, dessen Gesicht ich nicht mal mehr weiß, noch immer dankbar für seine Hilfsbereitschaft, sein Vertrauen, und sein Mitgefühl anstatt mich zu kritisieren. Seine Tat war keine Selbstverständlichkeit.
18) Mitternachtssnack
Komplett übernächtigt komme ich mitten in der Nacht am Berliner Hauptbahnhof an. Hier werde ich vier Stunden verbringen müssen, bis mein Zug fährt. Bereits die letzte Nacht habe ich in verschiedenen Zügen auf dem Weg aus dem Norden in meine Heimatstadt verbracht, heute Nacht bin ich auf dem Rückweg. Die Gründe sind unwichtig für die Geschichte, ich habe diesen Aufwand jedenfalls gerne auf mich genommen. Dennoch frage ich mich, in der zweiten Nacht hintereinander ohne Bett, mit kaum Schlaf am Berliner Hauptbahnhof sitzend, wie ich jetzt die Zeit hier verbringe. Wenigstens bin ich hier vor der nächtlichen Kälte geschützt. Ich beschließe: wenn ich schon diese Anstrengung auf mich nehme, dann kann ich mir auch etwas gönnen. Ein Bäcker im Hauptbahnhof hat auch um Viertel zwei Nachts noch offen und ich hole mir ein Franzbrötchen, das ich mit auf die Bank an meinem Gleis nehme. Meine Wahrnehmung ist nicht mehr die aufmerksamste. Dadurch bemerke ich auch erst jetzt, als ich meine Brötchentüte öffne, das der Verkäufer mir noch zwei weitere kleine Gebäckstücke dazugetan hat. Ich hatte es nicht bemerkt und mich deswegen nicht einmal bedankt. Der Bäckereiverkäufer hat mich komplett mit diesem Geschenk überrascht. Leise, ohne Kommentar, ohne sich Anerkennung oder irgendeinen Dank einholen zu wollen, nicht mit der Aussicht irgendetwas zurück zu bekommen- einfach so hat er das gemacht.
Sehr süß, im wahrsten Sinne des Wortes.
17) Keine Kleinigkeit
Geschichten von kleinen Dingen und Gesten gefallen mir besonders- sie können in jedem Alltag stattfinden und können einem, wenn man sie bemerkt, auf einfache Weise einen ganzen Tag verschönern.
Ob man vor der Weiterfahrt sein noch gültiges Parkticket an andere weitergibt, wie es mein Mitreisender in Schottland getan hat.
Oder wenn man jemandem anderen etwas wiederbringt, was er verloren hat- auch wenn es nur die Trinkflasche oder 50 Pennies sind, zwei Beispiele die mir aus den letzten Wochen einfallen.
Oder das Weitergeben eines Pfandbons, wie mein Kollege das in der vergangenen Woche getan hat. Er meinte er hätte keine Lust gehabt die 100 m zum Einlösen des Pfandes zu laufen, dennoch finde ich dass auch Freundlichkeit in dieser Geste steckt. Es hat etwas damit zu tun, auch an andere zu denken.
Kleine Taten, die man nicht tun müsste, die aber einen selbst und andere erfreuen.
Jede kleine Geste von mir kann etwas Besonderes für mein Gegenüber sein.
16) Ja ja, ich höre dir zu…
Zuhören ist eine besondere Kunst. Gemeint ist aktives Zuhören, nicht nur Hinhören. So dass man dem anderen seine ganze Aufmerksamkeit schenkt, dass man wirklich interessiert daran ist was der andere sagt. Das hat uns Michael Ende schon in seinem wunderschönen Buch “Momo” ans Herz gelegt: richtig zuhören ist wichtig!
Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen heute nicht mehr gehört wird, wenn sie etwas sagen. Oder ihnen nicht lange genug zugehört wird, weil scheinbar die Zeit fehlt. Oder vielleicht kommt es uns auch nur so vor, als hören die anderen nicht richtig zu. Beim Arbeiten begegne ich häufig Menschen, die nicht mit mir reden, sondern mir etwas erzählen wollen. Denn scheinbar haben sie niemanden, der sich das anhören möchte, was sie zu sagen haben. Ich erinnere an die allererste Geschichte, “Zuhören in Berlin”.
Zuhören kann man üben. In der Universität gibt es ein regelmäßiges Treffen, das sich genau damit beschäftigt. In der Gesprächsrunde kommt jeder einmal zu Wort und hat einen gewissen Zeitraum, um zu sprechen, sich etwas von der Seele zu reden oder auch nur irgendetwas zu erzählen. Und die anderen hören zu. Keiner darf unterbrechen, es wird nicht kommentiert, nur zugehört. Und häufig reicht das schon.
Eine ganz ähnliche Übung habe ich vor kurzem machen dürfen, in einem Seminar in dem es viel um gute Kommunikation ging. Wir sollten uns Rücken an Rücken mit einer zweiten Person setzen und dann hatte erst der eine, dann der andere zwei Minuten Zeit über irgendetwas zu reden. Und der andere hatte zwei Minuten Sendepause. Danach sollten wir die Kernaussage des anderen zusammenfassen.
Was ist passiert? Ich habe mich ganz auf die Erzählung meiner Partnerin eingelassen, weil ich wusste dass das jetzt ihre Zeit zu sprechen ist. Und ihre Erzählung hat meine Aufmerksamkeit ganz in Beschlag genommen. Weil man mit dem Rücken zueinander saß und die Akustik schlechter war, habe ich erst recht besser hingehört um auch nichts zu verpassen. Ich fand es eine gute Übung.
Das ist vielleicht eine etwas ungewöhnliche Erzählung, nicht direkt eine Geschichte, aber ich bin mir sicher gutes Zuhören bringt uns ein ganzes Stück zusammen weiter.
15) Reisegeschichten walisischer (und französischer) Menschlichkeit
Auf Reisen, wenn man nicht in dem gewohnten Umfeld ist, fallen einem besondere Gesten mehr auf- deswegen kann ich euch von ein paar neuen Reisebegegnungen erzählen. Begegnungen von einfacher Hilfsbereitschaft und Empathie. Vielleicht sind die Waliser, deren Land ich besucht habe, aber auch einfach besonders freundliche Menschen.
Ich kam abends mit dem Zug am Rand eines kleinen, walisischen Dorfes an und wollte den Bus in die Ortsmitte nehmen. Wie ich auf die Bushaltestelle zugehe, schließt der Bus die Türen und fährt langsam los. In meinem deutschen Gehirn dachte ich, dass ich den Bus verpasst habe und ich wende mich in die entgegengesetzte Richtung, um den Weg ins Dorf zu laufen.
Ein vorschnelles Urteil. Einen Moment später hupt es hinter mir. Die Busfahrerin öffnet die Tür und sagt, dass sie mir und meinem schweren Rucksack nur entgegenfahren wollte. Der Vorfall mag für sie nichts bedeutet haben und sie hat ihn wahrscheinlich schon wieder vergessen. Aber mir ist es als etwas Besonderes in Erinnerung geblieben.
Einen Tag später, nach einer langen Wanderung und einer weiteren Busreise, habe ich abends noch nach einer Unterkunft gesucht. Da ich zuvor nicht wusste, wo ich hingehen würde, hatte ich nichts im Voraus gebucht und bin auf gut Glück im Regen zu einer Unterkunft gelaufen. Es war ein Risikospiel- das zuerst so aussah, als hätte ich es verloren, denn es war nichts mehr frei. Doch die beiden Franzosen, die in dem Farmhaus zur Miete wohnten haben mich sofort aus dem Regen in ihre Unterkunft gebeten und mir einen warmen Tee angeboten. Dann haben sie mit den Vermietern geredet, ob ich dort bleiben kann (denn bei Ihnen waren noch mehrere freie Betten). Die Vermieter haben es ihnen überlassen- und ich hatte zwei spontane, aber sehr nette und unkomplizierte Gastgeber.
Einfach so- aus Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit- wie man es auch nennen möchte.
14) Vom Willen zu Helfen
In dieser Erzählung geht es um Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer. Ein klassisches Bild für mich, wenn ich an das Ziel dieses Projektes denke. Und es ist eines, das hoch diskutiert wird. Darüber, was es für Signale aussendet.
Für mich sind einige der Signale Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Denn die Helfer bekommen kein Geld dafür oder Zertifikat für ihren Lebenslauf und von vielen Menschen und Institutionen auch kein Verständnis oder Unterstützung. Was ist es also dass sie antreibt, so etwas zu machen? Menschlichkeit, würde ich sagen.
Ein Bekannter, E., ist 2017 zu einem Seenotrettungseinsatz gefahren. Für ihn war es ein Schreckensbild, das ihn dazu bewegt hat, selbst aktiv zu werden: ein weit bekanntes Bild eines toten Kindes, dessen Körper an einem Strand des Mittelmeeres angespült wurde. Die stumme Aussage, Symbol der Unschuld von Kindern und Endgültigkeit des Todes, hat viele berührt. Für E. hieß es, dass er solche Katastrophen nicht länger zulassen wollte. “Wir sind eine Menschenfamilie”, sagt er.
So kam er zu der Freiwilligenarbeit für eine Nichtregierungsorganisation, für die er nicht zum Urlaub machen sondern zur Unterstützung bei der Seenotrettung an das Mittelmeer kam. Dort hat er mit einer Gruppe anderer Helfer die Küste vor Libyen abgesucht. Seenotrettung heißt in lebensbedrohlichen Notfällen auf See, einzugreifen. Schwimmwesten und Wasserflaschen werden an die oft schlecht ausgerüstet und -informierten Flüchtende in den Booten verteilt und die Seenotrettungsleitstelle benachrichtigt. Selber wird kein Transport durchgeführt. Das führt aber schon zu schweren ethischen Fragen, vor allem bei medizinischen Notfällen. Die Helfer auf den Booten müssen sich vor ihrem Einsatz bewusst sein, dass sie möglicherweise nicht jedem helfen werden können. Medizinische Notfallversorgung ist zwar vorgesehen, doch es kann auch schon zu spät für manche sein- und auch wenn man allen helfen will, sollte man nicht Ressourcen für verlorene Fälle verwenden. Auch das gehört dazu und jeder muss sich vorher die Frage stellen, was er verträgt und wozu er bereit ist. Denn wie so vieles ist auch Menschlichkeit kein einfaches Konzept, sondern eines mit verschiedenen Gesichtern und Betrachtungsmöglichkeiten.
E. und seine Mithelfer kamen dann letzten Endes trotz all der wachen Augen nicht zum Einsatz, wie auch andere Hilfsorganisationen in dem Zeitraum. Hintergrund dafür waren die verschärften Maßnahmen der libyschen und der italienischen Küstenwache, die die Seenotrettung für sie unmöglich gemacht haben. Und dennoch- durch Berichte von Bekannten wie ihm sind einem die Bilder aus den Nachrichten plötzlich ganz nah. Und man kann sich selber fragen: was für ein Mensch will man sein?
13) Wenn andere dir aufstehen helfen
Diesmal keine großen Worte davor, nur so viel: manchmal muss man erstmal tief fallen, bevor sich andere Menschen zeigen.
“Menschlichkeit – was ist das schon? Ist es nur Positives? Ein Zyniker würde sagen, es ist nur Schwäche. Ich denke die Antwort liegt irgendwo dazwischen. Mein Freund ist spielsüchtig. Als er mir das vor einem Jahr erzählt hat wusste ich überhaupt nicht was das bedeutet. Und als er im Juni rückfällig wurde, seinen gesamten Monatslohn verlor und wir beide für ein paar Wochen Essen stehlen mussten, da war mir immer noch nicht klar, dass es ein Problem sein würde. Es war mehr wie ein Abenteuer. Dann kam eine harte Zeit. Sein BAföG war spät dran. Das war im September. In den folgenden Monaten war irgendetwas anders. Wir waren fast wie Fremde. Doch das Geld war nicht spät dran, er hat es bloß verloren und sich zusätzlich verschuldet und sein Essensgeld, von mir irgendwie zusammengekratzt, war auch weg. Das habe ich herausgefunden als ich ihn im November gefunden habe, ausgehungert und mit Schnürsenkeln um den Hals. Und in all dem Chaos soll Menschlichkeit sein? Ja, eine Menge! Denn wir sind immernoch zusammen, und uns geht es super, besser als je zuvor! Denn wir haben die besten Freunde auf der Welt. Freunde, die uns Essen und Geld gaben, die mir halfen unsere kaputte Welt wieder aufzubauen, Menschen ohne die wir uns unser Leben nicht vorstellen können. Egal was passiert, mein Freund und ich, wir haben einander und nach all dem Leid können wir alles miteinander teilen. Und wir haben die klügsten, verständnisvollsten und lustigsten Freunde, mit denen wir Sport und Theater und Blödsinn machen. Völlig unbeschwert und abgedreht. Was ich damit sagen will? Menschlichkeit sind extreme Tiefen, aber Menschlichkeit ist auch Vertrauen und Teamarbeit und Wärme. Und wenn du genau hinschaust, kannst du deine eigene Menschlichkeit finden.”
12) Daumen raus auf dem Weg
Ich habe es schon einmal angeschnitten: den verschiedensten Menschen begegnet man auf Reisen und wenn man unterwegs ist- und ebenso vielen verschiedenen Charakteren und Einstellungen. Viele dieser Begegnungen haben mir auf meinem Weg geholfen weiterzukommen- das ist genauso im übertragenden wie auch im direkten Sinn gemeint.
Zum Beispiel beim Trampen. Ich habe mich immer nur gemeinsam mit Freunden an die Straße gestellt und mit ihnen viele hilfsbereite und interessante Leute getroffen. Manchmal mussten wir Stunden warten, andere Male wurden wir bei der ersten Gelegenheit mitgenommen. Mal funktioniert es besser, mal weniger, aber die Leute waren alle sehr besonders.
Da war das junge Pärchen mit dem kleinen und bereits voll gepackten Auto, das uns trotzdem noch hat einsteigen lassen. Mit ihnen haben wir Ratespiele gespielt- die Hauptstadt zu einem Land erraten und dergleichen.
Eines Abends, als wir schon eine ganz schöne Strecke zurückgelegt hatten und recht erschöpft waren, so dass wir nur noch einen Bus zu unserem Zielort nehmen wollten, haben uns doch noch zwei junge Gleisarbeiter auf dem Rückweg von ihrer Arbeit mitgenommen. Nicht nur bis zu unserem Zielort, sie haben uns sogar zu einem passenden Platz zum Zelten an einen See in der Umgebung gefahren. Das hatte auch für sie etwas überaus positives- denn auf dem Weg haben sie festgestellt, dass es an diesem Sommerabend eigentlich eine gute Idee ist, nach der Arbeit noch in ebendiesen See zu springen. Man könnte sagen, dass wir ihnen so etwas etwas von unserer Reise zurückgegeben haben.
Das erste Mal in einem LKW mitzufahren war ein besonders interessantes Erlebnis, weil ich keine Ahnung vorher hatte, wie diese Langstreckenfahrer so leben, nur Geschichten gehört hatte. Er hat mich nicht nur hunderte von Kilometern weit mitgenommen, sondern mich auch zum Mittagessen unterwegs eingeladen und sich die Mühe gemacht, in der Zielstadt auch einen möglichst guten Platz für mich zum absetzten zu suchen- trotz der extra Umstände für ihn.
Und wann immer mein Sitznachbar ein Hund war, war die Fahrt ohnehin ein besonders schönes Erlebnis für mich.
Erst letztes Jahr gab es wieder viel Diskussion um das Trampen, als ein Mädchen auf dem Weg von Deutschland nach Spanien verschwand. Deswegen, an alle um meine Nachricht deutlich zu machen: Natürlich ist Trampen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Das hier ist keine Aufforderung, mir alles nachzumachen. Kopf einschalten und darauf hören. Und vor allem Kinder, bitte nicht bei fremden Leuten die euch dazu einladen ins Auto einsteigen!
Aber wie immer möchte ich lediglich zeigen, dass positive Dinge existieren, dass Gutes passiert, auch wenn davon nicht immer berichtet wird. Welcher Sender würde schon die Nachricht bringen “Heute ist eine Tramperin gut angekommen”? Und trotzdem ist es genau das, was wir ebenso hören sollten. Es gibt die hilfsbereiten Menschen noch genauso wie früher, die einem den Tag auf eine Weise verschönern, wie das eine normale Busfahrt nicht gekonnt hätte.
Man kennt andere Menschen nie bevor man sie trifft. Das klingt vielleicht banal, aber irgendwie muss man doch andere Menschen kennenlernen. Manchmal über seinen Schatten springen. Deswegen empfinde ich Dankbarkeit gegenüber denjenigen Menschen, die mich ein Stück auf meiner und ihrer Reise mitgenommen haben.
11) Arbeiten für das Leben
Familie sollte selbstverständlich füreinander da sein. Und Freunde sind wie eine Familie, die man sich selbst aussucht. Doch dort, wo man es nicht erwartet, freut einen Mitgefühl und Unterstützung wohl am meisten. Eine Freundin hat eine Erfahrung geteilt, von einer Frau die über ihre Pflicht bei der Arbeit hinausgeht, anderen Menschen zuliebe.
“Vor knapp 3 Wochen ist mein Opa gestorben. Heute habe ich meine Oma besucht. Gleichzeitig hatte sie Besuch von einer Person, die ich nicht weiter kannte. Es handelte sich um eine mobile Pflegekraft, die, nachdem mein Opa vor 2 Jahren mehrere OPs hatte, bei ihm die Verbände gewechselt hatte und regelmäßig alles kontrollierte. Seit Mitte 2018 war mein Opa keine Patient mehr von ihr. Trotzdem hat sie meine Großeltern regelmäßig besucht, mit ihnen Kaffee getrunken, geredet. Und auch heute war sie eine große Stütze für meine Oma. Das alles, obwohl sie selbst Familie hat, obwohl es nicht ihre Arbeitszeit ist, obwohl sie halb so alt wie meine Oma ist. Und in diesem Beruf, in dem sie so unter Zeitstress und Druck steht. Es zeigt, mit wie viel Leidenschaft diese Menschen ihren Beruf ausüben und wie sehr sie sich für ihre Patienten aufopfern, auch weit über ihre Arbeitszeit hinaus. Ein schönes Beispiel von Menschlichkeit, finde ich.”
10) Kuchen und der Obdachlose- Teil 2
Diese Geschichte wird ist kein Wiederholungsfehler, sondern ein Beweis dafür, dass Geschichten wirklich Veränderung bewirken können. Von wie vielen sie gelesen werden, weiß ich nicht und wie viele sie sich zu Herzen nehmen kann ich unmöglich messen. Aber mich bewegen sie jedes Mal und ich lerne aus ihnen. Schon von den ersten Erzählungen und Nachrichten an, die mich erreicht haben, hatte sich der Aufwand für mich gelohnt. Daraus ist irgendwann auch aktives Handeln und die folgende Begebenheit entstanden:
Erinnert ihr euch an die Geschichte vor wenigen Wochen “Indigo, Kuchen und der Obdachlose” (19.02.19)? Behaltet sie im Hinterkopf.
In vielen Städten gibt es inzwischen Ansätze gegen Lebensmittelverschwendung in Restaurants. Hier in der Stadt bezahlt man beispielsweise über eine App einen kleinen Beitrag und bekommt dann eine Reihe von Resten mitgegeben. Man weiß nie was übrig bleibt und man von daher mitnehmen kann. So war es auch für mich eine Überraschung, was ich in dem Café, wo ich Übriggebliebenes des Tages abgeholt habe, bekommen würde. Unter anderem war ein Stück Möhrenkuchen dabei.
Wegen der Fastenzeit wollte ich zu dem Zeitpunkt keinen Zucker essen. Als ich dann später vor dem Supermarkt an einem obdachlosen Bettler vorbei gekommen bin, kam mir deswegen der Gedanke, dass er viel mehr von dem Kuchen haben würde als ich. Nach einem kurzen Moment des Zögerns bin ich zu ihm gegangen und habe ich ihn gefragt ob er ihn haben möchte. Er hat ihn angenommen und sich bedankt.
Es war nichts besonderes, aber ich war froh, jemandem anderen eine Freude gemacht zu haben. Und auch wenn mir erst im Nachhinein die Ähnlichkeit zu der Geschichte von Indigo’s Tat aufgefallen ist, bin ich mir sicher dass sie doch zu der Entscheidung beigetragen hat, da ich mich gedanklich doch viel mit den Geschichten beschäftigt habe.
Meine Botschaft ist nicht dass die Welt durch Kuchen verschenken gerettet werden kann (obwohl, vielleicht gar keine schlechte Idee). Aber das kleine Schritte das Leben sicher etwas schöner für alle machen. “Jeder Mensch hat die Chance, mindestens einen Teil der Welt zu verbessern, nämlich sich selbst” soll Paul de Lagarde gesagt haben- wenn ich schon so ein Projekt auf die Beine stelle, fange ich doch am besten bei mir selbst auch an.
9) Tischtennis dreisprachig
Ich weiß, dass es jedes mal ein umstrittenes Thema in verschiedenen Hinsichten ist, aber es hält auch so viele schöne Geschichten bereit: nachdem im Herbst 2015 viele Flüchtlinge nach Europa kam, gab es viele menschliche Taten auf verschiedenen Seiten. Von einigen seiner Erfahrungen hat ein Freund berichtet:
“Heute habe ich wieder die Flüchtlinge auf der Messe mit dem Austeilen von Tee und Essen unterstützt und was einige Leute glauben wie es da oben zugehen soll, es ist nicht wahr!
Die meisten von ihnen sind so freundlich, sie versuchen unsere Sprache zu lernen und ich wünschte, ich könnte ein paar Fremdwörter so schnell, wie einige dieser Kinder lernen! Ich gebe mein Bestes und versuche ein paar Worte Arabisch mit ihnen zu sprechen und dann sind sie noch freundlicher mir. Sie helfen mir mit den Wörtern die ich nicht kenne und sie fragen mich wie es mir geht, aber sie sind immer noch erstaunt wenn ich versuche Arabisch mit ihnen zu sprechen, weil sie es einfach nicht glauben können.
Wenn man alleine schon das Lächeln auf ihren Gesichtern sieht und ihre Dankbarkeit für unser Helfen spürt, weiß man, dass es sich lohnt, zu helfen!
Jeden Tag den ich da bin schließe ich neue Freundschaften und versuche mir die unbekannten Namen und Gesichter zu merken und am besten ist einfach wenn ich Tischtennis mit ihnen spielen kann! Versucht mal den Spielstand in drei Sprachen, Deutsch, Englisch und Arabisch anzusagen und zu üben und euch nebenbei aufs Spiel zu konzentrieren…
Meine beste Erfahrung bisher war aber heute: Einige Freunde hatten ihr eigenes Essen gekauft (in der Regel bekommen sie das Essen von der Kantine), es war Humus und Fladenbrot und luden mich ein mit ihnen zu essen. Sie, die fast alles verloren haben, teilen mit mir ihr Mittag, einfach unglaublich und wirklich belohnend!”
8) Für mich da sein
“Menschlickeit habe ich vor zehn Jahren, aufgrund einer Krebserkrankung am eigenen Leibe erlebt. Eine Arbeitskollegin, zu der ich kein intensives freundschaftliches Verhältnis hatte(sondern eine ganz normale Beziehung unter Kollegen), hat mich während meiner Chemotherapie, zu der ich stationär ins Krankenhaus musste, völlig selbstlos für eine Woche begleitet, indem sie ihren Urlaub geopfert hat und sich ganz herzlich um mich gekümmert hat. In der Zeit hat sie sich 120 km entfernt vom Wohnort ein Quartier gesucht, um in meiner Nähe zu sein. Allein ihre Anwesenheit, Fürsorge und aufmunternden Worte haben mir in der schweren Zeit viel Kraft und Halt gegeben. Für mich war das neben dem Rückhalt meiner Familie und Freunden eine intensive Erfahrung , selbstlose Menschlichkeit zu erfahren und annehmen zu können. Diese Erfahrung hat mein Denken und Tun bereichert und neu inspiriert. 🙏”
7) Pilgern auf Japanisch
Am häufigsten trifft man auf Menschlichkeit, so zumindest erscheint es mir häufig, wenn man auf Reisen unterwegs ist. Sobald man versucht, ein anderes Land und das Leben dort kennen zu lernen, öffnen sich einem die Menschen und zeigen ihre freundlichsten Seiten. Von daher kann man viele Geschichten über Menschlichkeit von Reisen erzählen. Hier sind einige Erfahrung eines Freundes, der viel gereist ist, beispielsweise möglichst ohne Geld nach China und zurück, wo er Menschlichkeit gefunden hat:
“Auf meiner ersten Reise in Japan, als ich zu den 88 Heiligen Tempeln auf der Insel Shikoku pilgerte, begegneten mir gleich am 2. Tag unterwegs eine Gruppe japanischer Pilger. Diese 3 Damen „bereits im fortgeschrittenen Alter“, luden mich ein mit Ihnen zusammen die nächsten 4 Tempel mit dem Auto abzufahren. Wären nicht die offenen Brandblasen an meinen Füßen gewesen hätte ich wohl abgelehnt. Und als wäre das nicht genug, besorgten sie mir eine Pilgertasche und eine Unterkunft für die Nacht in einem wundervollen traditionellen Hotel, dass ich ohne ihre Hilfe nie gefunden hätte.
All das, obwohl ich nur wenige Worte japanisch sprach.
An einem anderen typischen Pilgertag, wachte ich morgens nach einem langen Schlaf in meinem kleinen Zimmer in einem alten Tempelhotel auf. Ich war nicht wirklich hungrig, beschloss also das Frühstück einfach ausfallen zu lassen und mich wieder auf den Weg zu machen. Da habe ich aber nicht mit der Freundlichkeit meiner Gastgeberin gerechnet, die niemanden mit leerem Magen weiter ziehen lässt.
Es klopfte also an der Tür (mehr ein Kratzen, Papiertür) und die Frau des Mönches trat ein. Nach einem kurzem Moment Taboo (rate das Wort) konnte ich ihr erklären das ich nicht hungrig sei und gleich wieder gehe. Sie ging und kam kurz darauf mit einem kleinen Carepacket mit Ei, Tofu und Reis zurück. Alles liebevoll in einer Wegwerf- Bentoschale verpackt.
Nicht einmal 10 Sekunden später trat der nächste ein. Ein großer Japaner in weißer Pilgerkleidung und mit einer riesigen Packung Trockennudeln unter dem Arm. Mindestens 10 Liter. Ich begann schon daran zu zweifeln ob ich nicht doch noch am träumen sei oder über Nacht als Heilig erklärt wurde als noch jemand eintrat. Ein kleine Frau, anfang 30 und aus Thailand stammend. Sie sprach fließend Englisch, erklärte mir die Situation und drückte mir noch 9000 Yen, ca. 70 Euro in die Hand.
Es gibt viele solcher Geschichten die sich in Japan zugetragen haben. Von alten Frauen die einem Mandarinen schenken, Autofahrern die anhalten um an einem heißen Sommertag Getränke zu schenken, verrückten TvReportern und Hotelbesitzern die einen gratis übernachten lassen. Japan ist definitiv eines der freundlichsten Länder in denen ich das Glück hatte wandern zu dürfen.”
6) Kein Dach über dem Kopf: Indigo, Kuchen und der Obdachlose
Wenn es um das Thema Obdachlose und Betteln geht, bin ich selbst immer etwas gespalten. Viele kleine Gesten haben mich daran erinnert, dass sie auch nur Menschen sind, und dass manche Menschen Bettler doch als Menschen beachten:
Ich rede von einfachen Dingen, wie eine Freundin die, als sie in der Stadt auf uns gewartet hat, sich vor dem Laden mit einer Bettlerin einfach nur unterhalten hat. Eine andere Freundin gibt von dem Obst, dass sie vom Markt rettet, stets auf dem Nachhauseweg, Obdachlosen etwas ab. Und als ich vor kurzem am Bahnhof saß und gewartet habe, wurde die Frau neben mir mit einer Bitte um Geld angesprochen- und sie hat der Fragenden nicht nur ein paar Münzen, sondern auch ein Halstuch gegeben.
Von einer anderen Freundin bekam ich diese herzerwärmende Geschichte:
Es ist nach Mitternacht und wir stehen in einem Hinterraum des Labour Clubs. Ein Nachklang von Musik hallt noch in der Luft und der Geschmack der Gedichte hat unsere Lippen noch nicht verlassen. Es ist weit nach Mitternacht und wir schweben schwerelos in der scheinbar stillstehenden Zeit. Es ist leicht zu leben, in Nächten wie dieser. Am Nachmittag hatte eine andere Veranstaltung stattgefunden – eine ohne Musik und Gedichte, wahrscheinlich auch ohne Bier, aber dafür mit Kuchen. Und jetzt stehen wir vor den Überbleibseln, bereits halb im Gehen.
„Nehmt etwas Kuchen mit“, sagt jemand. Aber wir zögern.
„Ich weiß nicht. Mir ist gerade nicht wirklich nach Kuchen“, sagt eine von uns.
„Na gut, aber wenn ihr ihn nicht nehmt, schmeißen wir ihn weg.“
„Wenn das so ist, denke ich, sollten wir ein bisschen mitnehmen“, gebe ich nach. „Wenn wir ihn nicht essen, werden die Jungs bestimmt mehr als glücklich sein.“
Uns wird eine Box gegeben, die wir bis zum Rand füllen. Dann sind wir durch die Tür und stehen in der noch nicht ganz warmen Nacht. Es sind kaum Autos auf der Straße und auch nur wenig Menschen. Nur ab und an öffnet sich die Tür eines Pubs und eine handvoll angetrunkener Leute stolpert hinaus und entfernt sich in Sphären aus Zeit und Raum, parallel zu uns, auf unserem Weg zum Marktplatz und durch die Einkaufsstraße. Die Stadt ist wunderschön in der Nacht – das Grau des Asphalts reflektiert eine Palette von Blau- und Lilatönen, und schwarz, der Himmel offenbart seine endlose Tiefe, ab und an mit Sternen gesprenkelt, das warme Licht der Straßenlaternen lässt die Schatten tanzen, erweckt sie zum Leben und lässt sie schwanken zwischen Flamenco und einem langsamen Walzer.
Unten an der Straße, wo all die Clubs sind, ist es lebendiger. Ein ständiger Strom von Menschen verbindet die Clubs und Bars mit der Straße. Wie gesplitterte Planeten bewegen sie sich durch die Nacht auf ihren eigenen Bahnen, nahezu unbewusst der Welt um sie herum. Und wir bewegen uns auf unserer eigenen Bahn, vorbei an den Feiernden, die Straße hinunter bis zu dem Punkt, wo sie sich in zwei teilt. Wir sind fast schon auf der Straße, auf der die Taxihaltestelle liegt als Indigo mit einem Mal stehen bleibt und die andere Straße hinunter zeigt.
„Wartet“, ruft sie. „Da ist ein Obdachloser. Ich möchte ihm Kuchen geben.“
Also, drehen wir uns um und laufen in die entgegengesetzte Richtung und bleiben neben einem Mann stehen, der auf den Boden sitzt und sich gegen die Wand eines Gebäudes lehnt, unbeachtet von den Fröhlichen und den Betrunkenen um ihn herum.
„Hi, magst du Kuchen haben?“, fragt Indigo und der Mann schaut auf. Er ist jünger als ich zunächst geschätzt hatte und ich kann von seinem müden Gesicht ablesen, dass er eine Weile braucht, um zu registrieren, dass er es war zu dem Indigo gesprochen hatte.
„Er war übrig und sie hätten alles weggeschmissen, also haben wir eine ganze Box voll Kuchen mitgenommen. Nimm so viel wie du magst.“ Auf seinem Gesicht erscheint ein Leuchten und ich frage mich, wann er zum letzten Mal Kuchen gegessen hatte. Er wirft einen Blick auf die Kuchenstücke im Pappkarton und sucht sich mit großer Sorgfalt diejenigen aus, die ihm am besten gefallen. Er lacht und hält sie vor sein Gesicht, und mit einem Mal scheint zumindest ein Teil seiner Müdigkeit von ihm gewichen zu sein und an dessen Stelle erscheint ein Ausdruck reiner Freude. Es ist das Glück eines Kindes. Des inneren Kindes, das viele von uns auf dem Weg zum Erwachsenwerden verloren haben. Und ich sehe die unbeschreibliche Schönheit dieser Welt gespiegelt in seinen Augen.
5) Wasser ist ein Geschenk
Wasser ist Leben, heißt es immer. Und dass es eine der wichtigsten Ressourcen überhaupt ist, die wir Menschen auf der Erde haben und brauchen. Ich persönlich muss dabei dankbar an all die Menschen denken, die mir Wasser gegeben und damit sehr geholfen haben.
Einmal habe ich im Sommer beim Laufen die Hitze unterschätzt und großen Durst bekommen. Auf diese Art verschätzt hatte ich mich noch nie und ich hatte noch ein paar Kilometer nach Hause zurückzulegen. Da habe ich zwei mir entgegenkommende Radfahrer nach etwas Wasser gefragt und sie haben mir aus ihren Flaschen etwas zu trinken gegeben.
Beim Wandern in Irland waren unsere Flaschen an einem Tag leer und wir hatten unterwegs nichts zum auffüllen gefunden. Da haben wir uns ebenfalls mit fragen ausgeholfen und im nächsten Ort an einem Haus geklingelt. Von der netten Frau dort haben wir nicht nur unsere Flaschen aufgefüllt bekommen, sondern eine Einladung zum Tee gleich mit dazu.
Auch bei unserer letzten Radtour haben wir unterwegs Leute gefragt, ob wir unsere Trinkflaschen bei ihnen auffüllen dürfen. Und obwohl häufig gesagt wird, Deutsche wären verschlossen oder unfreundlich gegenüber Fremden, konnte meine Erfahrung das nicht bestätigen. Da wir den ersten Schritt auf sie zu gemacht hatten, hat jeder auf unserem Weg uns geholfen und sich dazu noch mit uns über unsere Reise unterhalten. Ich hatte oft den Eindruck, dass sie uns gerne mit dem Wasser abhelfen wollten, und nicht ausschließlich aus einer Pflicht heraus. Mit Freude teilen- ist das auch eine Art Menschlichkeit- gerade wenn es um etwas so wichtiges wie Wasser geht?
4) Mein Freund Mustafa
Im Sommer 2013 befand ich mich mit einer Gruppe von Mitstudenten in einem Flugzeug nach Amman, Jordanien. Wir würden zwei Wochen ein Sommercamp für junge Rotes Kreuz/ Roter Halbmond Freiwillige aus Dänemark, Jordanien und Palästina, organisieren und besuchen, mit dem übergeordnete Ziel Genderfragen in unseren Ländern zu debattieren. Ich wusste noch nicht, dass die wichtigste Lektion dieses Sommers weniger mit Geschlechterfragen als mit Menschlichkeit generell zu tun haben würde.
Ich bin nie zuvor im Mittleren Osten gewesen und bevor wir in Jordanien landeten, stellte sich mein naiv-abenteuerlustiges, zwanzig Jahre altes Ich fein gezeichnete Wüsten wie in Walt Disney’s Aladdinvor, während meine etwas mehr rationale, bald-Journalist Seite sich an Nachrichten über den Arabischen Frühling und Revolutionen in den Nachbarländern erinnerte. Das wirkliche Jordanien war friedlicher und entspannter, aber offensichtlich nicht wie in dem Aladdin Märchen. Dennoch hatte ich in diesem Sommercamp eine Erfahrung, die eines Disneyfilms würdig gewesen wäre.
Im Camp traf ich einen Jungen namens Mustafa und wir wurden beinahe vom ersten Tag an Freunde. Beinahe. Mustafa kam aus Palästina und war Muslim. Ich kam aus dem unerschütterlich säkularen Dänemark, wo viele Leute Religion als etwas altmodisches und Zielscheibe für Witze ansehen. Vor allem die Glaubensrichtungen, die wir nicht verstehen. Mustafa musste das erfahren, als die satirischen Zeichnungen eines dänischen Illustrators von dem muslimischen Propheten Mohammed große Empörung im gesamten Mittleren Osten, gefolgt von einem Boykott gegen Dänemark und dänische Produkte, auslöste.
Mustafa war ein netter Typ. Das ist eine sehr einfache Art, eine andere Person zu beschreiben, aber genau das war er. Er half viele Aktivitäten im Camp durchzuführen, war ein talentierter Künstler, der viele unserer Gespräche in kleinen Comics darstellte und er sprach so gut Englisch, dass er einer unserer besten Dolmetscher für diejenigen war, die nur Arabisch sprachen. Was mir am deutlichsten von ihm in Erinnerung blieb, ist dass er tatsächlich eher schüchtern schien. Aber auf seine eigene ruhige Art, zeigte er seine vielen Talente und Bereitschaft sie zu teilen um das Camp eine noch bessere Erfahrung für alle zu machen.
Die letzte Nacht im Camp war, was mich wirklich beeindruckt hat. Wir hatten eine kulturelle Feier mit einer dänischen Modenschau, arabischen Tänzen und vielen Süßigkeiten aus beiden Teilen der Welt. Wir waren traurig über den bevorstehenden Abschied am nächsten Tag, aber auch erfüllt von Freude und Süßem von der Feier. Am Ende des Abends saß ich draußen und atmete die jordanische Nacht mit einer Gruppe von Freunden, auch Mustafa, ein. Wahrscheinlich haben wir uns bereits an die Camperfahrungen und was wir über unsere Länder gelernt hatten zurückerinnert, aber in der Mitte der Unterhaltung schaute Mustafa mich zurückhaltend an und mit einem: „Sei nicht traurig“, erzählte er mir wie sehr er noch vor einer Woche Dänemark verachtet hatte. Was er über mein Land wusste war verbunden mit den Mohammed Karikaturen, und wie viele andere war auch er aufgebracht gewesen. Er hatte sogar unsere Flagge auf den Straßen von Ost-Jerusalem verbrannt. Der ursprüngliche Grund warum er in dieses Sommercamp gefahren war, war weil er dachte es wäre ein Camp für Freiwillige des Roten Halbmondes, und er hatte einen Schock bekommen als einer meiner Klassenkameraden sich ihm am ersten Tag mit: „Schön dich zu treffen. Ich bin Mathias aus Dänemark“, vorstellte.
Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. Mustafa- der ruhige, nette Freund von dem ich mir nie hatte vorstellen können, dass er einer Fliege etwas zu leide tun könnte- saß hier mit mir und erzählte mir, wie er einst mich gehasst hätte, nur weil ich aus Dänemark kam. „Aber jetzt sehe ich die Dinge anders“, versicherte Mustafa mir. „Ich bin wirklich froh in dieses Camp gekommen zu sein, denn nun habe ich gesehen, dass ihr Dänen fantastische Leute seid.“ Mir war schwindelig vor Freude. Nicht weil er meine Leute „fantastisch“ genannt hat, sondern weil er, einfach so, mit diesen wenigen Worten, dem Camp eine so viel größere Bedeutung gegeben hatte als es schon hatte. „Und wenn ich nach Hause komme, werde ich all meinen Freunden erzählen, dass ich ein paar nette Dänen kenne“, fuhr Mustafa fort, und meine Wangen fingen an weh zu tun von all dem Lächeln. „Dann werden sie auch wissen, dass ihr auch gute Leute seid.“
Zurückblickend, frage ich mich immer was seine Meinung geändert hat. Die Wahrheit ist, wir haben nicht besonderes gemacht. Wir waren nur eine Gruppe junger Menschen, die Spaß hatten, voneinander gelernt haben und über Sprachfehler gelacht haben. Kulturelle Unterschiede und Religion haben nicht zu viel Platz in unseren Gedanken ausgefüllt. Wir Dänen waren zu Hause über potentielle Unterschiede, auf die wir achtgeben sollten, eingewiesen worden. Mädchen sollten ihre Knie und Schultern bedecken, Jungen und Mädchen sollten sich nicht umarmen oder einander berühren- und im Camp lachten die jungen Jordanier und Palästinenser nur über unsere Versuche, vorsichtig zu sein. Am Ende waren unsere Art, jung zu sein und Spaß zu haben, nicht verschieden.
Ich schreibe diese Geschichte nicht um ein rosiges Bild der Welt zu malen. Ich versuche nicht die Existenz von religiösem Extremismus zu leugnen oder zu unterstellen, dass Westliche oder Araber, die nie gereist sind oder Fremden begegnet sind, automatisch engstirnig oder Rassisten sind.
Ich schreibe das hier auf, weil es eine schöne Geschichte ist die mir immer ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Und wir brauchen Lachen in Zeiten wie diesen, wenn wir unsere Augen und Grenzen verschließen gegenüber dem, was wir nicht verstehen. Zu guter Letzt schreibe ich diese Geschichte auf, weil ich mich immer fragen muss, ob Mustafa oder gute Menschen wie er momentan in einem Flüchtlingscamp in Griechenland stecken oder in ihrer Heimat bombardiert werden.
Es sind Geschichten wie diese, an die ich mich erinnern und die ich für den Rest meines Lebens weitergeben möchte. Mitten in einer humanitären Krise aber auch im Alltag, kann eine Geschichte wie diese hoffentlich ein Lächeln hervorzaubern, welches die Mauern um unsere Länder und Gedanken einreißt.
(Diese Geschichte wurde von Ida Scharla Løjmand geschrieben.)
3) Dankbarkeit, verloren und gefunden
Es passiert immer mal wieder, dass man etwas wertvolles verliert, seinen Schlüssel, Geldbeutel und dergleichen. Dankbarkeit und Erleichterung empfindet man dann normalerweise, wenn jemand das Verlorene findet und wiederbringt. Allerdings nicht immer, ein Freund hat es auch schon erfahren, dass er jemandes Pass gefunden und denjenigen darüber informiert hatte. Der Besitzer hat den Pass daraufhin abgeholt, mit einem Verhalten als wäre es das selbstverständlichste der Welt, nicht besonderen Dankes wert. Mein Freund hatte es auch selbst nicht als besondere Tat angesehen, aber wegen dieses Verhaltens ist ihm jemand anders besonders positiv aufgefallen. Denn vor kurzem hat er die Kreditkarte von jemandem anders gefunden und konnte auch diese dem Besitzer zuordnen und diesen kontaktieren. Und jener Besitzer hat sich überschwänglich gefreut und bedankt, mit Schokolade und netten Worten, die gezeigt haben wie sehr er diese kleine Tat geschätzt hat. Auch das gehört, finde ich zu Menschlichkeit: Dankbarkeit.
Schon das Wiederbringen der Sachen ist für viele selbstverständlich. Als mir diese Geschichte erzählt wurde, kamen wir auf den Gedanken, dass möglicherweise gerade besonders netten Menschen weniger Erlebnisse einfallen, die bemerkenswert sind um sie hier zu berichten, weil sie menschliche Gesten als selbstverständlich ansehen.
2) Bustickets für zwei
“Das war Mega beeindruckend gerade: da ist eine Frau im Bus mit einem Kind und sie dachte, weil das [Kind] erst drei ist bräuchte sie kein Ticket. Und dann kam der Fahrer und hat gesagt sie muss noch ein Ticket für das Kind für 7€ kaufen und die Frau hat nur gebrochen deutsch gesprochen und hat dann mit jemandem telefoniert und irgendwie hat man rausgehört dass sie das Ticket nicht zahlen konnte. Und dann hat ein Mann zwei Reihen hinter ihr dem Fahrer zehn Euro in die Hand gedrückt und gesagt er zahlt es und wollte das Rückgeld von der Frau auch nicht wieder annehmen 🙊🙈”
Busfahren ist etwas so Alltägliches, dass ich mir diese kleine Situation lebhaft vorstellen kann, und diese Erzählung hat mir ein kleines Lächeln auf das Gesicht gezaubert. Ich frage mich dadurch auch: kommt es denn für mich immer auf jeden einzelnen Euro an, wenn er woanders gebraucht wird?
1) Zuhören in Berlin
Beim Arbeiten treffe ich jedes Mal die interessantesten, ungewöhnlichsten Menschen. Oder vielleicht sind sie gar nicht ungewöhnlich, aber man trifft sie normalerweise nicht, weil man nicht mit so vielen verschiedenen Menschen in so kurzer Zeit zu tun hat. Doch durch die Arbeit erzählen mir so einige kurze (oder auch längere) Geschichten aus ihrem Leben, die mich berühren oder zum Nachdenken bringen. Eine, die mir in Erinnerung geblieben ist, war von einer Frau in Berlin.
Sie erzählte mir von ihrem Tag, an dem sie nicht wie an jedem anderen einfach nur auf Arbeit gegangen ist. An jenem Tag hatte diese Frau sich mit einem Schild im Stadtteil Marzahn hingestellt, auf welchem stand, dass sie zu hört. Sie hat Menschen die Möglichkeit gegeben, zu ihr zu kommen und mit ihr zu reden, ihre Gedanken, Sorgen, Probleme oder Wünsche zu erzählen. Sie hat nicht selbst etwas erzählt, sondern sich dorthin gestellt damit andere zu ihr kommen können und sie ihnen zuhört.
Normalerweise erzähle ich beim Arbeiten Anderen Dinge- diesmal hat mir jemand etwas Neues erzählt und mich an etwas erinnert. Die Frau hat mich daran erinnert, dass es wichtig ist zuzuhören. Keine Ratschläge zu erteilen, sondern aktiv zuzuhören.